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zu K. Stierle über Kunstwerk und Werkbegriff
 
Neue Zürcher Zeitung

Die Aufgabe des Verstehens
Karlheinz Stierle

über Kunstwerk und Werkbegriff

agr. Ästhetische Rationalität meint eine besondere Art der Sinnstiftung, die sich z. B. von der Vorgehensweise der exakten Wissenschaften unterscheidet. Charakteristisch für die ästhetische Rede ist der «eingeklammerte Realitätsbezug»: Ihr Ziel ist nicht (oder nicht in erster Linie), Aussagen über aussersprachliche Wirklichkeit zu machen; alle Elemente eines ästhetischen Gebildes verweisen zurück auf das Medium der Darstellung (z. B. die Sprache), sind eingebunden in eine abstrakte Sinnstruktur, deren Logik erst «im Raum des Ästhetischen» anschaulich wird. Die prozesshafte Entwicklung der Strukturen findet im Werk ihren Zielpunkt; es ist, so Karlheinz Stierle, «die Erscheinung des zu sich selbst kommenden Ästhetischen». Obwohl in der Abfolge der Werke so etwas wie Fortschritt zu beobachten ist, wirkt das einzelne «in seiner Konkretheit ereignishaft» und hebt dadurch die Zeit der Geschichte auf. Das Werk bedarf des Verstehens, d. h. der Interpretation, aber sein Inhalt lässt sich nicht von der Form lösen; deshalb ist er nicht «übersetzbar», auch nicht in die Sprache der Wissenschaft: «Das Werk widersetzt sich in dem Masse, wie es sich erschliesst.»
Im Vorwort zu seinem neuen Buch verteidigt der Konstanzer Romanist auf elf ungemein dichten Seiten, deren Sprache sich durch eine spröde Schönheit auszeichnet, den Werkbegriff gegen seine modernen und postmodernen Verächter, die gelernt haben, «sich auf das Fragmentarische, das Unabgeschlossene oder Vieldeutige als Medium einer neuen Kunst einzulassen», und für die sich das Werk «an seine Intertextualität verliert». Die Werkhaftigkeit auch und vor allem die Kunst des 20. Jahrhunderts wird in 23 Aufsätzen verdeutlicht; alle bis auf 3 waren seit 1975 in wissenschaftlichen Zeitschriften oder Sammelbänden veröffentlicht worden, aber wenn man sie jetzt wiederliest, treten Querverbindungen und Zusammenhänge viel deutlicher hervor. Der Band ist in vier Abschnitte eingeteilt; sie behandeln die philosophischen und hermeneutischen Grundlagen des Verstehens, das Verhältnis von Werk und Medium (an Beispielen aus bildender Kunst, Musik und lyrischer Dichtung), die Werkgestalt fiktionaler Texte und zuletzt beispielhaft fünf Autoren (Dante, Diderot, Mallarmé, Proust und Claude Simon).
In seinem kurzen Schlusswort bekennt sich Stierle zu einem modernen Klassizismus. – Jeder, für den Kunst existentielle Bedeutung hat, kann aus diesem Buch (das freilich nicht leicht zu lesen ist) reiche Belehrung ziehen.
Kurzbeschreibung
Schon daß seit Baudelaire über Mallarme, Proust, Apollinaire, Picasso, Giacometti bis Yves Bonnefoy eine Traditionslinie bedeutender moderner Kunst und Dichtung sich unmißverständlich zum Gedanken des Werks und seiner normativen ästhetischen Kraft bekannte, dürfte Grund genug sein, die Frage nach der ästhetischen Legitimität werkhaft konzipierter Kunst offenzuhalten und die Möglichkeit, ja Verbindlichkeit werkhaft gebundener Kunst neu zu bedenken.
Die Logik des Ästhetischen ist fundamental und durch keine ästhetische Reflexion noch durch ästhetischen Voluntarismus außer Kraft setzbar, es sei denn um den Preis des Ästhetischen selbst.

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Autor: Sophie Bolldorf; Publiziert von: Sophie Bolldorf (sophie)
factID: 111542.3 (...Archiv); Publiziert am 21 Jul. 2002 20:31
 
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