Lesen - Kompetenz, Motivation, Verhalten.

Von Auswärtige Autoren.
2,135 Wörter
18 Juni 2002
Neue Zürcher Zeitung
Deutsch
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Lesen - Kompetenz, Motivation, Verhalten

Eine Umfrage unter Lehrern und Schülern

Von Priska Bucher, Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung, Universität Zürich

Die Befunde der PISA-Studie, welche den Schweizer Schülerinnen und Schülern höchstens eine mittelmässige Lesekompetenz attestieren, haben in Fachwelt und Öffentlichkeit Diskussionen ausgelöst. Eine im Kanton Zürich durchgeführte Studie liefert Informationen zum Leseverhalten von Schülern und Lehrern und zeigt auf, wie Umfeld und Motivationslagen das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen beeinflussen.

Dass die Resultate der PISA-Studie in der Schweiz zu Diskussionen anregen, ist eine der wichtigsten Auswirkungen, die eine solche breit angelegte internationale Studie haben kann: Die zur Gewohnheit gewordene Vorstellung, im Schweizer Bildungssystem stehe alles zum Besten, wird hinterfragt und der Diskurs über den schulischen und gesellschaftlichen Umgang mit der Kulturtechnik Lesen erlangt eine neue Aktualität. Dabei ist es wichtig, nicht nur die Lesekompetenz an sich, sondern auch das heutige Leseverhalten und die Lesesozialisation genauer zu untersuchen.

Dabei ist es sinnvoll, das Leseverhalten als Produkt einer Konstellation verschiedener fördernder und hemmender Faktoren und Prozesse zu sehen. Anhand einer Befragung von Schülern und Schülerinnen im Alter von 12 bzw. 15 Jahren sowie von deren Lehrern und Lehrerinnen können jetzt diese Aspekte genauer erläutert werden. Die Umfrage wurde im Rahmen eines noch nicht veröffentlichten Dissertationsprojektes, «Medienumgang und Leseförderung in der Informationsgesellschaft: Schule und Bibliothek», im Frühling 2001 durchgeführt. Es wurden 1284 Schülerinnen und Schüler sowie deren Lehrer und Lehrerinnen zu ihrem Lese-und Medienverhalten im Freizeitbereich und im Schulunterricht befragt.

Rolle der Schule und Bibliotheken

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen beeinflussen die Mediennutzung und somit auch das (Bücher-)Lesen grundlegend. Zum einen ist die starke Orientierung der Schule am Buch zu nennen: Obwohl in letzter Zeit vermehrt auch neue Medien wie Lernsoftware und Internet in den Schulunterricht einbezogen werden, ist auch heute noch der gedruckte Text das wichtigste Arbeitsmittel in der Schule.

Auch heute stehen das laute Vorlesen eines vorgegebenen Textes durch die Schüler mit 93 Prozent und das Abfragen des Inhalts gelesener Texte (96 Prozent) an der Spitze der im Unterricht verwendeten Lesetechniken, während Fragen danach, ob und warum der Klasse ein Buch gefallen hat und was die Schüler von den literarischen Figuren halten, nur zu rund 60 Prozent gestellt werden. So stehen also in der Regel das Lesenlernen und der Inhalt des Gelesenen im Vordergrund, spielerische Aspekte und die Freude am Lesen haben meist nur wenig Platz. Dementsprechend sind 83 Prozent der befragten Lehrerinnen und Lehrer der Ansicht, dass die wichtigste Aufgabe der Schule darin besteht, den Schülern das Lesen beizubringen; Freude am Lesen zu vermitteln, gehört hingegen nur für 77 Prozent der Befragten zu den wichtigsten Zielen des Deutschunterrichts.

Rund ein Viertel der Primarlehrer und über ein Drittel der Oberstufenlehrer geben auch an, die Freizeitlektüre ihrer Schülerinnen und Schüler gar nicht in den Unterricht einzubeziehen. Nur zu 30 Prozent (Oberstufe), hingegen zu 60 Prozent (Primarschule) haben die Schüler die Möglichkeit, während der Unterrichtszeit in eigenen Büchern zu lesen. Auf die Frage, wer sich dafür interessiert, was sie in ihrer Freizeit lesen, wurde von den Schülern dementsprechend lediglich von 21 Prozent der Lehrer genannt, ebenso viele Primarschüler und gar 34 Prozent der Oberstufenschüler haben den Eindruck, dass sich gar niemand für ihre Freizeitlektüre interessiert.

Der Stellenwert, welchen Bibliotheken im öffentlichen Leben innehaben, trägt etwas dazu bei, wie mit der Kulturtechnik Lesen in einer Gesellschaft umgegangen wird: Sind es in Skandinavien beispielsweise 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung, welche Bibliotheken nutzen, so beträgt dieser Anteil in der Schweiz je nach Region zwischen 10 und 15 Prozent. Im Kanton Zürich geben nur 17 Prozent der befragten Lehrer an, dass sie mit ihren Schulklassen regelmässig eine Bibliothek aufsuchen (dazu zählt auch, wenn sie dies mit jeder Klasse einmal pro Schulstufe tun). Für 43 Prozent der Lehrer kommt ein Bibliotheksbesuch mit den Schülern manchmal vor, knapp ein Drittel tut dies eher selten, und 9 Prozent der Lehrer suchen im Rahmen des Schulunterrichts nie eine Bibliothek auf.

«Leseknick» in den Biographien

Das Interesse an gemeinsamen Aktionen von Schule und Bibliothek ist aber sowohl seitens der befragten Lehrer (60 Prozent geben an: «Ja, daran bin ich sehr interessiert») als auch seitens der Bibliotheken sehr gross. Als einziger wichtiger Hinderungsgrund wird auf beiden Seiten das Ressourcenproblem (Mangel an Zeit, Personal und Geld) genannt. In der heutigen Situation ist es also weitgehend von der Eigeninitiative einzelner Lehrer und Bibliothekare abhängig, ob Schülerinnen und Schüler die Möglichkeiten einer Bibliothek kennen und schätzen lernen.

Als wichtigste Sozialisationsinstanzen für die Entwicklung einer (kognitiven) Medienkompetenz und einer (affektiven) Medienmotivation sind, neben persönlichen Eigenschaften, die Familie, die Schule und der Kameradenkreis zu nennen. In Anlehnung an eine Studie der Bertelsmann-Stiftung wurde im Rahmen des Projekts ein Leseindex gebildet, welcher die Lesehäufigkeit, die Lesedauer, die Freude am Lesen sowie (positive) Einstellungen zum Lesen misst.

Für die befragten Primarschüler ergibt sich bei einer maximalen Punktzahl von 30 ein durchschnittlicher Leseindex von 17,5 Punkten, unter den Oberstufenschülern sinkt dieser Wert auf durchschnittlich 15 Punkte. Die Bindung ans (Bücher-)Lesen geht also zwischen dem Primarschulalter und dem Ende der obligatorischen Schulzeit zurück, wobei sich dieser «Leseknick» nicht nur in der Lesequantität, sondern auch in der Lesehäufigkeit, der Lesedauer und der Lesemotivation zeigt. Zum einen ist der Rückgang des Lesens auf die vielfältigen Freizeitaktivitäten zurückzuführen, zu denen Jugendliche nun vermehrt Zugang haben. Darüber hinaus wächst auch die Bedeutung des Kollegenkreises, wobei viel Zeit mit diesem verbracht wird. Zum anderen ist auch plausibel, dass sich die Jugendlichen im Laufe des Prozesses ihrer Identitätsfindung vom Buch, welches für sie «ein Medium der Kinder» ist, abgrenzen wollen.

Der erwähnte Leseknick ist sowohl bei den Mädchen als auch bei den Knaben feststellbar, wobei Mädchen in allen Schulstufen immer bedeutend mehr lesen als Knaben. Einzig bei Gymnasiasten verringert sich die Differenz zwischen den Geschlechtern. Unterschiede geschlechtsspezifischer Art zeigen sich zudem auch bei den Lesepräferenzen. Während Mädchen eher fiktionale Texte - wie sie im Rahmen des Unterrichts hauptsächlich gelesen werden - bevorzugen, sind Knaben eher an sach-und informationsorientierten Texten interessiert.

Einfluss der Lehrer, Eltern und Kollegen

Der durchschnittliche Leseindex der befragten Lehrerinnen und Lehrer beträgt 24,7 Punkte, wobei derjenige der Frauen bei 26,9 und derjenige der Männer bei 23,8 Punkten liegt. Da der Leseindex nur etwas darüber aussagt, wie sehr sich die Befragen selbst fürs Lesen interessieren, jedoch nicht darüber, wie gut Lehrerinnen und Lehrer ihr Interesse an Büchern auch an ihre Schulklassen weitervermitteln können, wurde aus verschiedenen Fragen ein Leseförderungsindex gebildet, welcher aussagt, wie stark im Unterricht etwas zur Leseförderung unternommen wird. Als lesefördernd gelten hierbei beispielsweise das Sprechen über Bücher, das Empfehlen interessanter Lektüre, regelmässiger Bibliotheksbesuch, die Organisation von Lesungen, das Schreiben eigener Texte und der Informationsstand bezüglich Leseinteressen der unterrichteten Schüler.

Die meisten Lehrer bewegen sich, was Leseförderung im Unterricht betrifft, in einem Mittelfeld. Werden in der Primarschule noch stärker Leseförderungsmassnahmen getroffen, so geht dieses Engagement in der Oberstufe zurück. Dabei ist ein deutliches Gefälle zwischen den verschiedenen Bildungsstufen erkennbar: Während in Gymnasien die Werte ähnlich hoch wie in der Primarschule liegen, wird in Sekundarschulen und noch ausgeprägter in Realschulen deutlich weniger Leseförderung betrieben. In allen Schulstufen, besonders in der Primar-und Sekundarschule, ist als Trend erkennbar, dass signifikant mehr und lieber gelesen wird, wenn Lehrer diesbezüglich ein hohes Engagement zeigen.

Den Eltern, insbesondere der Mutter, kommt im Rahmen der Lesesozialisation insofern eine wichtige Bedeutung zu, als sie bereits im Vorschulalter und später begleitend zur Schule durch den eigenen Mediengebrauch eine Vorbildfunktion für ihre Kinder übernehmen. So erfahren die 12-jährigen Primarschüler von der Familie eine stärkere Unterstützung bezüglich des Lesens als die 15-jährigen Schulabgänger. Zudem sind auch hier deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Bildungsstufen erkennbar.

Als dritte Instanz, die einen Einfluss auf das Leseverhalten von Schülerinnen und Schülern hat, ist die peer group, also der Kreis der Gleichaltrigen, zu nennen. Erhalten die 12-Jährigen von ihren Kameraden noch eher Unterstützung bezüglich Lesen, so geht diese bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit deutlich zurück, wobei sich auch hier Unterschiede bildungsspezifischer Art feststellen lassen. Dabei darf aber nicht ausser Acht gelassen werden, dass man sich meist Kollegen und Freunde mit ähnlichen Interessen sucht: Die Möglichkeit, «lesefördernde» Freunde zu haben, hängt also immer auch vom eigenen Leseinteresse ab, so dass der Einfluss der Kollegen eher zu einer Verstärkung vorhandener Dispositionen als zu einer neuen Lesehaltung führt.

Lesemotivation und Lesefertigkeit

Braucht es zur Nutzung zum Beispiel des Fernsehens keine speziellen Kenntnisse, so setzt die Entwicklung von Lesekompetenz einen langen, aufwendigen Prozess des Lesenlernens voraus. Wenn das Lesen einem Heranwachsenden Mühe bereitet, so beeinträchtigt dies die Lesemotivation. Fehlt die Lesemotivation, so hat dies wiederum zur Folge, dass weniger gelesen und dadurch die Möglichkeit geringer wird, interessante Bücher kennen zu lernen, welche zum Lesen motivieren könnten.

Der oben erwähnte Leseindex sagt an sich nichts über die Lesekompetenz aus, beschreibt aber die Stärke der Bindung einer Person ans (Bücher-)Lesen. Sowohl im internationalen Vergleich der Lesekompetenz (PISA-Studie) als auch bezüglich des Leseindex weisen Schweizer Schülerinnen und Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit Werte auf, die leicht unter dem Durchschnitt liegen. Dieses Resultat erhärtet die Annahme, dass ein Zusammenhang zwischen Leseverhalten und - motivation einerseits und Lesekompetenz andererseits besteht.

Zieht man die Antworten, welche die Zürcher Schülerinnen und Schüler diesbezüglich gegeben haben, hinzu, so zeigt sich der wechselseitige Zusammenhang von Lesefertigkeit und Lesemotivation sehr deutlich: Rund zwei Drittel der Befragten geben an, dass sie gerne oder sehr gerne lesen, ein Drittel hingegen liest nicht so gern oder überhaupt nicht gern. Analog dazu gibt auch ein Drittel der Schüler an, nicht mehr zu lesen, weil dies zu anstrengend sei. Als weiteren Grund, warum sie nicht mehr lesen, geben diejenigen, die Lesen als anstrengend empfinden, zu 75 Prozent an, dass sie nichts Interessantes zu lesen wüssten. Unter denjenigen, die Lesen nicht als anstrengend erleben, beträgt dieser Anteil nur 7 Prozent.

Infrastruktur ausbaufähig

Damit Heranwachsende überhaupt zum Lesen kommen, müssen Lesestoffe in ausreichendem Ausmass vorhanden, gut zugänglich und auf die Bedürfnisse der potenziellen Leser zugeschnitten sein. So trägt zum Beispiel eine gut erreichbare Bibliothek mit benutzerfreundlichen Öffnungszeiten, angenehmer Atmosphäre und einem interessanten Angebot viel zur Leseförderung bei.

88 Prozent der Schüler im Kanton Zürich haben die Gelegenheit, in ihrer Nähe eine Bibliothek zu besuchen. Rund 8 Prozent geben an, dass sich die nächste Bibliothek weiter als eine Viertelstunde von ihrem Wohnort entfernt befindet, und 4 Prozent der Befragten wissen gar nicht, ob in der Nähe eine Bibliothek vorhanden ist. Wie oben erwähnt, sagt die Bibliotheksdichte heute nicht mehr unbedingt etwas über die Qualität des Angebots und die Informationsleistung von Bibliotheken aus. Gerade kleinere und Kleinstbibliotheken sind heute auf Grund der knappen Ressourcen oft nicht in der Lage, ein aktuelles und breites Medienangebot, genügend Platz und benutzerfreundliche Öffnungszeiten anzubieten. Grosse Bibliotheken stossen an ihre Kapazitätsgrenze, wenn sie mit gleich bleibendem Budget den heutigen Ansprüchen der Benutzer in sämtlichen Medien-und Informationsbereichen gerecht werden wollen.

Neben öffentlichen Bibliotheken gab es zum Zeitpunkt der Befragung in 84 Prozent der Schulhäuser im Kanton Zürich eigene Schulbibliotheken; 41 Prozent der Schüler haben auch im Klassenzimmer Zugang zu Büchern. In der Ausstattung von Schulbibliotheken zeigen sich heute grosse Unterschiede einerseits innerhalb der gleichen Schulstufe (Primar-, Real-und Sekundarschule) und andererseits je nach Bildungsniveau. So sind Gymnasien beinahe ausnahmslos mit allen Medientypen ausgestattet und verfügen auch über ausgebildetes Personal, während Sekundar-und vor allem Realschulen häufig nur ein eingeschränktes Medienangebot aufweisen.

Freizeit und Medienumwelt

Die verfügbare Freizeit und die Möglichkeiten des Zugangs zu anderen medialen und nichtmedialen Freizeitangeboten spielen für das Leseverhalten als konkurrenzierende Faktoren eine wichtige Rolle. Das verfügbare Freizeitkontingent ist für Kinder und Jugendliche in den letzten Jahren nicht grösser geworden. Der Anteil, welcher die Mediennutzung im Rahmen des Freizeitbudgets einnimmt, hat sich in den letzten Jahren vergrössert, wobei die Zeit, die mit Lesen verbracht wird, relativ konstant geblieben ist.

Durch den Besuch von Nachhilfeunterricht oder Sportstunden wird die schulfreie Zeit der Kinder und Jugendlichen vielseitig in Beschlag genommen, so dass Freizeit im Sinne von frei verfügbarer Zeit ein knappes Gut ist und die Intervalle zwischen zwei (Freizeit-)Verpflichtungen kürzer geworden sind. Dieser Mangel an Musse zeigt sich auch im Leseverhalten: So hat in letzter Zeit das «Lesen in Portionen» zugenommen, es wird vermehrt informationsorientiert und «quer gelesen». Herkömmliche Schlüsselfähigkeiten für das Lesen wie Konzentration, Ausdauer und Entschlüsseln komplexer Zusammenhänge verlieren so an Bedeutung, was sich wiederum in Lesekompetenztests, die auch das Lesen längerer Texte umfassen, niederschlagen kann. Rasches Reagieren und das kurzfristige Erreichen von Zielen, wie es in der Arbeitswelt heute gefordert und von den Heranwachsenden häufig und gern anhand von Computerspielen trainiert wird, liegen heute viel eher im Trend.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Lesekompetenz, Lesemotivation und Leseverhalten untereinander und mit verschiedenen anderen Faktoren verknüpft sind. Um eine Veränderung im Umgang mit der Kulturtechnik Lesen erreichen zu können, sind langfristige Konzepte zu entwickeln, welche all diese Faktoren mit einbeziehen. Der Einsatz von Bildungsgeldern kann dabei ebenso wenig umgangen werden wie die Bereitschaft, das eigene Leseverhalten zu überdenken und ein Stück Verantwortung für das Erhalten unserer Lesekultur zu übernehmen.

Dokument neuzz00020020618dy6i0002y