Der Text ist die Party.

583 Wörter
24 März 2001
Süddeutsche Zeitung
Deutsch
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Lesen und sterben lassen: Immer weniger Leute lesen immer mehr - sagt eine neue Studie

Es wird, hieß es lange Zeit, nicht mehr gelesen in diesem Land. Es wird noch weniger gelesen werden in der Zukunft, und wir wissen auch, wer Schuld daran hat: der Computer, das Internet. Die Jungs und Mädels glotzen nur noch auf ihre Bildschirme, längere Texte interessieren sie nicht mehr.

Jetzt plötzlich, während der diesjährigen Leipziger Buchmesse, kommt die ganz andere Meldung - das alles stimmt gar nicht. Glaubt man einer repräsentativen Studie, die die Stiftung Lesen - die selber schon so oft Pessimistisches verkündet hat - jetzt im Spiegel-Verlag unter dem Titel "Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend" veröffentlicht hat, dann ist Optimismus angebracht:

Der Titel ist prächtig, die Meldung erstaunt und ist schon deswegen interessant. Doch wenn man die Studie aufschlägt, die erste nach 1992, fragt man sich schnell, woher der allgemeine Optimismus eigentlich kommt. Schon auf den ersten Seiten wird festgestellt, dass weniger Leute lesen. 1992 gaben 16 Prozent der Befragten an, sie würden täglich ein Buch aufschlagen. Im Jahr 2000 waren es neun Prozent. Gestiegen ist die Zahl derer, die einmal die Woche lesen (von 12 auf 13 Prozent), und jener, die einmal alle vierzehn Tage lesen (von 6 auf 10

der buchstabe ist tot

auch der buchstabe ist tot

das buch ist tot

auch das buch ist tot

alle bücher sind tot

alle buchstaben sind tot

das wort ist tot

auch das wort ist tot

Aus: Ernst Jandl, "Letzte Gedichte"

in der neubegründeten Sammlung Luchterhand

Prozent), doch auch bei jenen, die angeben, nie ein Buch zu lesen, schnellte die Zahl nach oben, von 20 auf 28 Prozent.

Macht der Abschlussbericht der Studie in Zweckoptimismus, um sich dann im Einzelnen selber zu widerlegen? Nicht ganz, er freut sich über zwei Sachen, die nicht uninteressant sind: Die Leser, die zwar weniger werden, lesen mehr. Die Gruppe Leser mit einem "Lesequantum" von sechs bis 20 Büchern pro Jahr sei um sechs Prozent gestiegen. Dabei seien vor allem Frauen, das liege an ihrem immer besseren Bildungsniveau. Und diese lesen mehr Bücher jeder Art. Auch die Zahl der gelesenen belletristischen Bücher steigt. Allerdings langsamer als jene der gelesenen Sachbücher.

Der zweite Punkt sei, dass es offensichtlich nicht stimmt, dass einer, der mehr elektronische Medien verwendet, weniger liest. Wer an Information interessiert ist, der ist dies in jeder Form. Der Computer ist offenbar nicht ein passiv machendes Medium, wie man das lange dem Fernsehen vorgeworfen hat. Wer vor seinem Computer sitzt, ist offenbar nicht für das Lesen verloren, sondern vielleicht auf dem rechten Weg. Dazu passt, dass auch, wenngleich nur um wenige Prozent, mehr Zeitungen und Zeitschriften gelesen werden. Und auch Radio wird mehr gehört. Die Informationsgesellschaft ist nicht nur ein Wort.

Doch auch dieser Befund hat bei genauerer Betrachtung seinen Makel. Denn ein Gutteil der Leute, die lesen, lesen offenbar flüchtiger. Vor allem in der zukunftsrelevanten Altersgruppe bis 19 Jahre. Immerhin 31 statt bisher 11 Prozent von ihnen gaben an: "Ich überfliege manchmal die Seiten und lese nur das Interessanteste." Ungeklärt bleibt, ob das Leute sind, die eine schnellere Auffassungsgabe haben. Oder Leute, die schon wissen, was sie lesen wollen.

Die 360 Seiten starke Studie bringt noch viele andere interessante Ergebnisse. Etwa, dass das E-book, schon als entscheidendes Element des Wandels im Leseverhalten befürchtet oder begrüßt, sich bisher als wenig zukunftsträchtig erwiesen habe. Als Ersatz für nicht rein zu Informationszwecken gelesene Bücher, die immer noch zahlreich sind, kommt es offenbar kaum in Betracht. HANS-PETER KUNISCH.

Dokument sddz000020010714dx3o00rsh