In-und auswendig.

1,069 Wörter
3 August 2000
Stuttgarter Zeitung
29
Deutsch
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Wiederholte Lektüre - eine unzeitgemäße Beschäftigung

Sommerzeit, Lesezeit - im vergangenen Jahr haben wir in der StZ-Kultur eine Reihe gestartet, die wir nun fortsetzen wollen: "Wiedergelesen". Unsere Autoren schreiben darin in loser Folge über Bücher, die sie nach Jahren der Missachtung wieder aus dem Regal geholt und einer kritischen Prüfung unterzogen haben. Diese wiederholte Lektüre ist heutzutage die Ausnahme, war früher aber die Regel - ein Phänomen, mit dem sich der Stuttgarter Literaturwissensch aftler Heinz Schlaffer in unserem Einführungsbeitrag zu "Wiedergelesen" beschäftigt.

Schon vor dem Erscheinen seines Romans "Die Wahlverwandtschaften" versucht Goethe, seinen Freund Zelter zu einer besonderen Aufmerksamkeit bei der Lektüre anzuhalten: "Ich habe viel hineingelegt, manches hineinversteckt. Möge auch Ihnen dies offenbare Geheimnis zur Freude gereichen." Weder Zelter noch den anderen zeitgenössischen Lesern gelang es, das "offenbare Geheimnis" zu enträtseln, sodass Goethe zwanzig Jah re später, 1829, zu Eckermann mehr resigniert als stolz bemerkt: "Es steckt darin mehr, als irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen im stande wäre."

Es sollte noch mehr als hundert Jahre dauern, bis hinter dem eleganten Roman einer Ehekrise in der besseren Gesellschaft entdeckt wurde, was sein Autor hineinversteckt hatte: eine Lehre von der Melancholie und ihrer Heilung, eine neuplatonische Idee von der Ewigkeit des Schönen, die Kostümierung griechischer Mythen in modernen Gewändern, kabbalistis che Spiele mit schicksalhaften Namen und Buchstaben - und vieles mehr. Diese Enträtselung gelang nicht den Laien, sondern den Philologen, die ihr Beruf zum mehrfachen Lesen anhält. Denn erst bei wiederholter Lektüre tritt hinter dem erzählten Geschehen die verborgene Konstruktion hervor, hinter dem Was das Wie.

Goethes Hoffnung, seine Leser würden durch mehrmalige Lektüre den Geheimplan seines Werks erkennen, musste deshalb enttäuscht werden, weil eben erst im 18. Jahrhundert und speziell durch den Roman jene neue Art von Lesen entstanden war, die heute die übliche ist: Man liest das meiste ein einziges Mal. Wiederholung ist zur seltenen Ausnahme geworden - vor dem 18. Jahrhundert war sie die Regel gewesen. Die Umstände dieses epochalen Umbruchs im Leseverhalten sind es wert, aufgeklärt zu werden, weil daraus auch der heutige Umgang mit Büchern besser verständlich wird.

Die "Bibliothek" von Hans Sachs, dem produktivsten deutschen Dichter des 16. Jahrhunderts, umfasste siebzig Bücher - das kann als der durchschnittliche Bücherbesitz der damaligen Gelehrten und Literaten gelten; mit 700 Bänden ist bereits die obere Grenze erreicht. Öffentliche Bibliotheken gab es nicht; die größeren Bestände in kirchlichem und fürstlichem Besitz waren für Privatleute nicht zugänglich. Nur von guten Freunden konnte man das eine oder andere, im Vergleich zu heute überaus teure Buch ausleihen. Und die schöne Literatur, also einige lateinische Klassiker und wenige Ritterromane des späten Mittelalters, nahm - zwischen christli cher Erbauungsliteratur und juristischen Pandekten - den geringsten Raum in diesen kleinen Sammlungen ein. Das wenige, was da war, musste also immer wieder mal gelesen werden, nicht selten sogar bis zum Auswendiglernen.

Die breiteren bürgerlichen Schichten besaßen gar nur ein Buch, die Bibel, in der man ein Leben lang las. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde das Lesen in einem Buch durch das Lesen von Büchern abgelöst - und zwar durch das Lesen von Büchern, die eben erst erschienen waren. In den kan onischen Texten, sei es der christlichen Religion oder sei es der antiken Dichtung, hatte man sich die dauerhaften Grundlagen der kulturellen Überlieferung angeeignet, die auch für die eigene Zeit und das eigene Leben genügen konnten. Mit den Romanen Richardsons, mit Rousseaus "Nouvelle Heloise" und Goethes "Werther" dagegen entstanden Werke, die für die gerade lebende Generation geschrieben zu sein schienen und als Novitäten innerhalb weniger Jahre zu europäischen Erfolgen wurden. Von nun an war es für leidenschaftliche Leser wichtig, auf dem Laufenden, also über Neuerscheinungen unterrichtet zu sein. In dieser Epoche, dem späten 18. Jahrhundert, entsteht daher die Literaturkritik, die in Zeitschriften davon Nachricht gibt, was in der Zeit geschrieben wurde. So viele Bücher erscheinen jetzt, dass der einzelne Leser nicht mehr dazu kommt, auch nur die wichtigsten unter den empfohlenen Werken zumindest einmal zu lesen - die wiederholte Lektüre bleibt wenigen Lieblingsbüchern vorbehalten. Erst spät hat sich das uns vertraute System von überreicher Produktion und hinter ihr her eilender Lektüre entwickelt: die Zahl der Bücher nimmt zu, aber nicht die Zeit, sie zu lesen. Um sich auf der Höhe der Neuigkeiten zu halten, muss die Wiederholung des Lesens eine Ausnahme bleiben. Die Bücher der Frühjahrsmesse sollten bei der Hebstmesse bereits vergessen sein, um den neuen nicht im Wege zu stehen.

Im Englischen heißt der Roman "novel", das heißt: Erzählung von etwas Neuem. Der Roman, noch im 18. Jahrhundert eine v erachtete Gattung, ist auch deshalb zur Hauptform der modernen Literatur geworden, weil er das Einmal-und-nie-wieder der zeitbedingten und zeitgemäßen Konsumtion zum Normalfall macht. Andere Formen, Gedichte und Dramen, entstammen einer älteren Praxis der Dichtung und sind deshalb auch heute noch auf wiederholte Rezeption angelegt. Wer den Theaterbesuch zu seinen Gewohnheiten zählt, wird den größten Teil des Repertoires im Laufe des Lebens mehrfach sehen. Wer ein Gedicht liest, wird es, falls es ihn anzieht, sogleich noch einmal lesen; er wird es vielleicht sogar auswendig lernen, wenn es eingängig ist; oder er wird die Lektüre aufs neue versuchen, wenn es schwierig ist.

Die anspruchsvolleren unter den Romanschriftstellern versuchten, die klassische Geltung und Dauerhaftigkeit, wie sie viele Gedichte und Dramen zu erwerben vermochten, auch auf die flüchtigere Existenz des Romans zu übertragen. Henry Fielding und Lawrence Sterne begannen in England, was Wieland und Goethe in Deutschland fortsetzten: den str eng komponierten Roman, der dem klassischen Geschmack und der ernsthaften Bildung genügen wollte, um das Publikum zu wiederholter Lektüre zu bewegen. Nur so konnte auch der erzählenden Prosa eine feste Stellung im Kanon der überdauernden Werke verschafft werden. Von Goethes "Wahlverwandtschaften" bis zu Joyces "Ulysses" und ihren Nachahmern reicht das noch ehrgeizigere Unternehmen, den Roman so geheimnisvoll anzulegen, dass seine verborgene Struktur sich nur (wenn überhaupt) der wiederholten Lektüre ers chließt.

In den letzten Jahren haben mehrere Zeitungen, unter anderem die Stuttgarter Zeitung, die Rubrik "Wiedergelesen" eingerichtet. Sie ist dem Beständigen gewidmet und lässt dennoch das Vergehen der Zeit spürbar werden: denn sie, die Zeit, hat sich seit der ersten Lektüre verändert, einstige Bewertungen sind gestiegen oder gefallen, und der Leser selbst ist älter geworden. Die Wiederholung will mehr als Wiederholung sein: eine gerechtere Beurteilung, eine genauere Einsicht, eine verbesserte Kenntn is des Werks. Weil es so selten zu dieser unzeitgemäßen Erfahrung kommt, aus der einst das Ansehen und die Lebendigkeit der klassischen Literatur hervorgegangen war, hat die wiederholte Lektüre den Reiz eines romantischen Abenteuers.

Von Heinz Schlaffer.

Dokument stugtr0020010817dw8301508