Trend zur Echtzeit - Perlensammler - Die Literatur im nächsten Jahrtausend.

785 Wörter
19 Mai 1999
Frankfurter Allgemeine Zeitung - Forschung und Entwicklung
Deutsch
(c) 1999 Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH

Der erste Januar des dritten Jahrtausends wird gerne als Datum einer umfassenden kulturellen Wende begriffen. Es ist, als würde man in wenigen Monaten in die eigene Zukunft eintreten. Da man schon jetzt gerne wüßte, was man erwarten darf, werden eifrig Visionen dazu entworfen, wie die Welt im nächsten Jahrtausend aussehen wird. So wollte die literaturwissenschaftliche Zeitung "Spiel" (Siegener Periodicum zur Empirischen Literaturwissenschaft, 16. Jg., Heft 1/2 1997, Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1998) herausfinden, wie denn Literatur im nächsten Jahrtausend aussehen und welche Funktion sie haben wird. Die Redaktion hat Literaturwissenschaftler eingeladen, ihre Erwartung zu formulieren. Allerdings beschäftigen sich die meisten von ihnen vor allem mit der Frage, ob und unter welchen Umständen es weiterhin Literatur geben wird.

Kaum einer der Autoren versucht, die Entwicklung der Literatur in den nächsten tausend Jahren zu prognostizieren, in der Regel beschränkt man sich auf die kommenden Jahrzehnte. Demnach ist keine besondere Revolution zu erwarten, die gegenwärtigen Tendenzen werden fortgeschrieben. Gewißheit herrscht darüber, daß Literatur im dritten Jahrtausend einen schweren Stand haben wird, denn der Trend zur Kommunikation "in Echtzeit" werde sich verstärken. Informationen über elektronische Medien werden sofort und so aufbereitet weitergegeben, daß sie möglichst wenig zeitraubende Reflexion seitens des Rezipienten erfordern. Auf der Rezipientenseite werde man sich an diese Geschwindigkeit gewöhnen; einer der heute schon beobachtbaren Effekte ist das "Zapping", das fortwährende Umschalten zwischen Fernsehprogrammen. Die gewohnheitsmäßige Mediennutzung werde somit im Gegensatz zur Literatur stehen, die eher "langsam" ist und in der Regel ein gewisses Maß an Reflexion verlangt. Doch werde, so die verbreitete Ansicht, Literatur weiterhin geschrieben und gelesen werden, wenn auch von einem elitäreren Personenkreis als bisher. Die überzeugendsten Argumente dafür, daß Literatur nicht einfach verschwinden werde, stammen allerdings aus empirischen Beobachtungen der Medienlandschaft und aus Untersuchungen zum Leseverhalten und zur Mediennutzung. Demnach konnte kein neues Medium bis dahin maßgebliche ältere Medien vollständig verdrängen, vielmehr stellte es Beziehungen zu ihnen her und wertete sie aus, wie die Geschichte, für Prognosen gern bemühte Zeugin, zeigt. So wurde beispielsweise im Radio häufig Belletristik gelesen, und Dramen wurden radiophonisch inszeniert. Ähnliches deutet sich derzeit für die Literatur an, die bereits über vielfältige Präsenz im Internet verfügt, so zum Beispiel im Projekt Gutenberg, in dem literarische Texte digitalisiert und über das Internet zugänglich gemacht werden, oder in den verschiedenen Formen, in denen mit Internet-Literatur experimentiert wird. Dabei muß Literatur nicht einfach Füllstoff für das Web sein. Als zukunftsträchtige, eher pädagogische Funktionen werden genannt die Einübung in Kreativität sowie die Pflege und Entwicklung der geschriebenen Sprache, ohne die auch in absehbarer Zeit keine Hochzivilisation auskommen wird. Das Internet, das gern als ein wichtiger Konkurrent für das literarische Lesen angesehen wird, setzt ja auch die Beherrschung von Lesen und Schreiben voraus. Solange aber Lesen und Schreiben ihren festen Sitz im Alltag, über das Internet auch in der Mediennutzung, haben, so lange dürfte es auch Individuen geben, die kreativ und spielerisch mit Sprache umgehen, also potentiell Literatur schreiben und lesen. Ein weiteres Argument dafür, daß Literatur nicht völlig verschwinden wird, weist darauf hin, daß es sie heute noch gibt, obwohl sie schon seit Jahrzehnten die Konkurrenz mit den audiovisuellen Medien aushalten muß. Wer ganz leichte Unterhaltung sucht, ist längst zum Fernsehen abgewandert. Zwar dürfte die Gruppe von Lesern, für die das Buch auratischen Wert hat und die anstrengende Lektüre als Genuß empfinden, auch künftig noch weiter schrumpfen, doch der große Einbruch im Leseverhalten hat bereits kurz nach der massenhaften Verbreitung des Fernsehens stattgefunden. Allerdings dürften sich die Texte unter dem Einfluß der neuen Medien wandeln: Vermutlich werden häufiger als bisher auch in der gedruckten Literatur Hypertext-Strukturen geschaffen, wie sie im Internet üblich sind. Der Umgang mit den Texten wird sich ebenfalls ändern: Die integrale Lektüre eines Textkorpus wird zumindest bei der Rezeption von Internet-Literatur nicht mehr möglich sein. Wenn, wie im Internet, virtuell jeder Text nur Teil eines größeren Textgewebes ist und alle Texte zusammen einen Hypertext ohne definierten Anfang und Ende bilden, dann wird man lediglich die "guten Stellen" auswählen und speichern. Jeder Leser wird sich seine eigenen "Perlen der Literatur" sammeln und speichern. Nach den Überlegungen, wie sie in den zahlreichen Aufsätzen in der Zeitschrift "Spiel" vorgebracht werden, liegt die Annahme nahe, daß die Nutzung der neuen Medien und des Internet vor allem zu Lasten der traditionellen audiovisuellen Medien gehen wird: Möglicherweise wird weniger das Lesen nachlassen als die Nutzung von Fernsehen und Audio, die einen ähnlichen dramatischen Rückgang der Nutzung verzeichnen werden wie in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts die Literatur. Was letztere angeht, wird man sich künftig von der Vorstellung frei machen müssen, daß sie nur in Buchform möglich ist. MARTIN KLAUS.

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