Factiva Dow Jones & Reuters

In internationalisierten Finanzmärkten verlieren Staaten ihre Macht.

557 words
15 February 2002
Die Presse
German
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Heiner Geißler hielt als Auftakt zur "Presse"-Diskussion in der Industriellenvereinigung einen vielbeachteten Vortrag. Hier einige Auszüge im Wortlaut.

Wenn man über die ethischen Grundlagen einer Gesellschaft im Wandel im Rahmen der Globalisierung redet, bleibt es ja nicht aus, daß kontrovers diskutiert werden muß. Man kann zunächst einmal die Frage stellen, ob überhaupt ethische Grundlagen im Bereich der Wirtschaft notwendig sind. Aristoteles hat einmal gesagt, Politik sei nichts anderes als das Bemühen, das geordnete Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen. Darauf kann man sich einigen. (...) Es hat einmal in Deutschland eine Diskussion gegeben um den Frieden, und Egon Bahr, langjähriger Berater von Willy Brandt, hat im Zeitpunkt der Auseinandersetzung mit der Friedensbewegung einmal postuliert, der Friede sei oberster Grundwert. Aber wenn dies wahr wäre, dann hätten ja die Nazis ihre Schreckensherrschaft auf der ganzen Welt ausbreiten können, ohne Widerstand finden zu dürfen. Das kann nicht richtig sein. Der Friede ist kein Grundwert. Der Friede ist ein politischer Zustand, der dann eintritt, wenn die eigentlichen Grundwerte realisiert sind: Die Freiheit, die Gleichheit, die Solidarität. (...) Die Solidarität ist heute am meisten gefährdet und deshalb müssen wir uns mit diesem Grundwert in besonderer Weise beschäftigen. Die soziale Marktwirtschaft in der Ökonomie hat diese Wertediskussion aufgegriffen. Die soziale Marktwirtschaft hat eine ethische Grundlage, sie ist das erfolgreichste Modell, die erfolgreichste soziale Wirtschaftsphilosophie der neusten Wirtschaftsgeschichte geworden. (...)

225 Super-Reiche

Und nun kommen wir zur Globalisierung, die unvermeidlich ist. In dem Moment, wo die Ökonomie globalisiert, die großen Unternehmen globale Unternehmen werden, entziehen sie sich dem Ordnungsrahmen. Eine Welt muß aus den Fugen geraten, wenn wir 225 Menschen auf dieser Erde haben, die über ein Vermögen von einer Billion US-Dollar verfügen. 225 Individuen haben damit als Folge der globalen Unordnung genausoviel, wie die Hälfte der Menschheit, drei Milliarden Menschen, an jährlichem Einkommen. (...) Für die Verfolgung privater Interessen eignen sich Märkte hervorragend. Aber sie sind nicht dafür gemacht, die Interessen der Allgemeinheit zu schützen. Schließlich konkurrieren Marktteilnehmer nicht deshalb miteinander, weil sie den freien Wettbewerb erhalten wollen, sondern um zu gewinnen - und, wenn sie könnten, den Wettbewerb auszuschalten. Und wo sie es können, tun sie es auch. Das Ergebnis sind Monopole und Oligopole. Früher war der Nationalstaat für den Schutz des öffentlichen Interesses zuständig, aber mit der Ausweitung der globalen Kapitalmärkte schrumpfte die Macht des Staates. Wenn sich das Kapital frei bewegen kann, müssen sich die Regierungen den Forderungen des Kapitals beugen. (...) Die Kommunisten haben geglaubt, sie könnten den Konflikt dadurch lösen, daß sie das Kapital eliminieren und die Kapitaleigner liquidieren. In Wirklichkeit sind sie daran gescheitert. Heute haben wir den umgekehrten Prozeß. Wir laufen Gefahr, daß das Kapital die Arbeit eliminiert. Kapitalismus ist genauso falsch wie Kommunismus. (...) Warum machen wir nicht einen Marshall-Plan? Die Amerikaner haben nach 1945 erkannt, daß Europa den Kommunisten in die Hände fällt, wenn es nicht gelingt, den Kontinent wirtschaftlich wieder auf die Beine zu stellen. Wir leben heute global in einer ähnlich dramatischen Situation, und deswegen brauchen wir eine Weltfriedensordnung und eine Weltwirtschaftsordnung. Mit bestimmten Regeln, für die Vorschläge auch schon da sind, die aus dem Chaos, das wir heute global noch haben, endlich eine Ordnung machen. Wir haben gar keine Zeit, zu warten, bis sich eine solche Ordnung von selbst einstellt. Unser Schicksal und das unserer Kinder hängt davon ab, daß wir an dieser Weltfriedensordnung und Weltwirtschaftsordnung arbeiten.

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