Wann ein Menschenleben beginnt, haben Gesetze nicht " zu bestimmen

Es sind nicht die Gesetze, die den Beginn eines Menschenlebens bestimmen I Von Robert Spaemann

Die Frage, ob Menschen vor ihrer Geburt auf Personenrechte Anspruch haben, steht nach wie vor im Mittelpunkt der gegenwärtigen bioethischen Debatte. Au~gelöst wurde sie durch die Aussicht auf neue therapeutische Möglichkeiten, die sich unter Umständen verwirklichen lassen, wenn im Zuge ihrer Entwicklung und Verwirklichung menschliche Embryonen getötet werden. Es gibt daher ein neues Interesse daran, diesen Embryonen den Rechtsschutz zu entziehen, der jedem Menschen zusteht. Es ist zunächst einmal wichtig, die Frage, um die es geht, klar zu formulieren, wie es Norbert Hoerster in dieseiZeitung dankenswerterweise getan hat (F .A.Z. vom 24. Februar und 8. März). Das ist leider sehr häufig nicht der Fall. Oft werden Formulierungen gebraucht, die das Problem verschleiern oder sozusagen unterderhand als bereits erledigt betrachten. So zum Beispiel im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik die Suggestivbehauptung, es gebe ein Recht jedes Menschen auf gesunde Kinder. Zwar existiert ein solches Recht natürlich sowenig, wie es ein Recht auf Glück gibt. Es gibt ein Recht auf "pursuit ofhappiness", aufStreben nach Glück. Aber ~benso wie das Streben nach Glück nicht das Recht einschließt, das Glück anderer zu vernichten, so schließt das rechtmäßige Bemühen um gesunde Kinder nicht das Recht ein, kranke Kinder zu töten, um für die gesunden Platz zu machen, wie dies zum Beispiel Peter Singer postuliert. Ebendies aber meinen diejenigen, die gegenwärtig vom Recht auf gesunde Kinder sprechen. Sie verschleiern die Frage, um die es geht.

Wolfgang Kersting hat, ebenfalls in dieser Zeitung, in diesem Zusammenhang von der j gegenwärtigen "Ausdehnung" des Lebensrechts auf Embryonen gesprochen, von der "Rückdatierung" des Personenstatus und von einer "wertontologischen Umdeutung des Menschenrechtsbegriffs mit dem Ziel, der "verbrauchenden Embryonenforschung" Hindernisse in den Weg zu legen (F .A.Z. vom 17. März). Diese Charakterisierungen stellen den tatsächlichen Sachverhalt auf den Kopf.

Spätestens seit der europäischen Aufklärung, die die Menschenrechte kodifizierte, wurden diese Rechte auch für die Ungeborenen in Anspruch genommen. Daß "das Erzeugte eine Person ist", ist zum Beispiel für Kant eine Selbstverständlichkeit. (Die Tatsache, daß der Kantianer Julius Ebbinghaus, auf den Hoerster sich beruft, hierüber anders dachte, wirft ein interessantes Licht auf dessen fundamentales Mißverständnis des kantischen Personbegriffs.) Wenn jemand - geleitet von medizinpragmatischen Interessen - zurückwill zu so etwas wie der mittelalterlich-scholastischen Sukzessivbeseelung, dann sollte er sich fairerweise bekennen zu dieser Einschränkung der Menschenrechte, statt denen, die an deren klassischem Verständnis festhalten, Ausdehnung, Rückdatierung und Umdeutung zu unterstellen. Und Staatsminister Nida-Rümelin sollte sich vielleicht auf das Mittelalter, aber jedenfalls nicht ausgerechnet auf die Aufklärung berufen, wenn er ebenfalls den Kreis der Träger von Menschenrechten einschränken möchte.

Das Bundesverfassungsgericht schließt sich insoweit der Tradition seit der Aufklärung an, als es das Recht auf Leben dem Menschen vom Anfang seiner Existenz an zuerkennt. Hiergegen wird nun von Hoerster und neuerdings von Reinhard Merkel eingewandt, das diesbezügliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts sei inkonsistent. Pie tatsächlichen Gesetzesauflagen seien mit dem aruanglich statuierten Grundsatz unvereinbar, höben diesen also faktisch auf, so daß der Grundsatz nichts anderes als Verfassungs lyrik sei, die das Gericht selbst nicht ernst nehme. Nun ist es allerdings auch meine Ansicht und die vieler Bürger, daß der Schutz, den das Gericht Menschen vor ihrer Geburt, vor allem aber in den ersten drei Monaten, zubilligt, dem zu Beginn konstatierten Recht auf Leben nicht genügt. Daraus würde sich al~erdings nach allen Regeln der Rechtsinterpretation ergeben, daß die Ausführungsbestimmungen dem Grundsatz angepaßt werden und nicht der Grundsatz fallengelassen wird, weil die bisherigen Ausführungsbestimmungen unzureichend sind.

Die Fallen der Klugheit.

Das gilt im vorliegenden Fall ganz besonders. Denn das Gericht selbst hat die Diskrepanz ausdrücklich mit der Unvergleichlichkeit des Falles begründet. Es ging von der Tatsache aus, daß Menschen vor ihrer Geburt in einer einzigartigen Symbiose mit ihrer Mutter leben. Daraus leitete es die Annahme ab, das Leben Ungeborener lasse sich niemals gegen die Mutter schützen, sondern nur mit ihr, das heißt durch Einwirkung auf ihre Motivation, das Kind auszutragen. Dem sollte das Beratungskonzept dienen. Das Gericht hat es überdies dem Gesetzgeber zur Auflage gemacht, die Effizienz dieser Lösung für den Schutz der Ungeborenen und damit die tatsächliche Vereinbarkeit der Ausführungsbestimmungen mit dem Grundsatz nach einem gewissen Zeitraum zu überprüfen. Es kann also gar keine Rede davon sein, daß das Verfassungs gericht selbst das Lebensrecht Ungeborener nicht anerkenne. Vor allem aber: Würde unter Berufung auf die Straffreiheit der Abtreibung innerhalb der ersten drei Monate nun die Tötung von Embryonen außerhalb des Mutterleibes freigegeben, dann würde sich die Begründung der Sonderregelung für die Abtreibung als die Heuchelei herausstellen, für die Hoerster sie schon jetzt hält. Denn ebenjene Mutter-Kind-Symbiose, auf grund deren man den Lebensschutz des ungeborenen Kindes ganz an die Motivation der Freiwilligkeit der Mutter bindet, liegt ja hier nicht vor. Wollten Gesetzgeber und Gericht wirklich unter dem Vorwand der Einzigartigkeit der Schwangerschafts situation eine Regelung einführen, die dann anschließend - auch bei Wegfall dieser einzigartigen Situation - als Präzedenzfall für unabsehbare Weiterungen dienen könnte? Die Einführung dieser Weiterung würde eine solche Annahme zwingend nahelegen.

Nun sind natürlich auch eine Verfassung und deren Auslegung durch das oberste Gericht keine unfehlbare Weisung. Es gab Gründe für sie, und diese Gründe können irrig sein oder durch neue Sachverhalte überholt. Norbert Hoerster, Reinhard Merkel und andere halten die Voraussetzungen eines Lebensschutzes für den Menschen von der Zeugung an für irrig. Hoerster sieht hinter diesem Irrtum entweder den von ihm metaphysisch genannten Gedanken vorpositiver, nicht auf menschliche Setzung zurückgehender Normen oder den von ihm religiös genannten Gedanken einer unsterblichen Seele, die den Menschen zum Ebenbild Gottes macht. Hoerster macht allerdings selbst darauf aufmerksam, daß keiner dieser beiden Gedanken ein Lebensrecht von Anfang an zwingend mache. Die bei den genannten Annahmen sind deshalb vielleicht notwendige, aber nicht hinreichende Gründe für ein solches Lebensrecht.

Hoerster empfiehlt einen empiristischen Zugang zur Erörterung der Frage. Da sich aber nach Ansicht des Empirismus aus Erfahrungsgegebenheiten niemals so etwas wie sittliche Weisungen :) herleiten lassen, läuft die Lösung der Frage für Hoerster auf eine bloße Klugheitsempfehlung hinaus: Wer selbst ein Überlebensinteresse hat, der ist gut beraten, wenn er gesetzlichen Regelungen zustimmt, die allen Menschen in vergleichbarer Lage das Überleben zumindest gegenüber dem Angriff anderer Menschen sichern. Niemand hat sozusagen von sich aus einen Anspruch auf Achtung seiner Lebenssphäre durch andere. Wir alle aber haben ein Interesse daran, daß eine gesetzliche Ordnung uns ein solches Recht aufLeben "einräumt". Menschen, die noch nicht oder nicht mehr subjektive Interessen haben, die ein Überlebensinteresse einschließen, gehören nicht zum Kreis derer, die in vergleichbarer Lage sind und an deren Schutz ich deshalb interessiert sein müßte. Auch einjährige Kinder sind noch nicht in dieser Lage, auch schwer Debile oder Altersdemente sind es nicht. Dennoch sollten wir nach Hoerster - im Unterschied zu Peter Singer - das Recht aufLeben mit der Geburt beginnen und bis zum natürlichen Tod dauern lassen, weil nur die Geburt eine "klare und leicht feststellbare Grenze" ist.

Auch die Fehlgeburt? Auch die Frühgeburt? Soll es wirklich jemandem einleuchten, daß.ein sieben Monate altes lebensfahiges Kind getötet werden darf, sofern es gewaltsam zur Welt gebracht, also abgetrieben wurde, ein sechs Monate altes dagegen ein Lebensrecht besitzt, weil es auf natürliche Weise geboren ist? Ist der Kaiserschnitt eine "Geburt"? Und wieso ist in einem bürokratischen modemen Staat nicht die Vollendung des er~ten Lebensjahres eine ebenso "leicht und klar feststellbare Grenze", die gegenüber der Geburt den Vorteil hat, sehr viel näher an dem Erwachen eines Überlebensinteresses im Sinne Hoersters zu liegen? Nein, Singers, Hoersters, Merkeis und Kerstings Kriterien für den Personenstatus eines Menschen beseitigen jede dauerhafte, weil logisch konsistente Barriere gegen die Tötung von Kindern im ersten Lebensjahr. Wenn diese nicht von sich aus einen Anspruch auf Achtung besitzen - mein eigenes Überleben sehe ich nicht dadurch gefahrdet, daß Babys nicht geschützt werden. Die Gründung von Ethik und Recht aufkluge Wahrnehmung egoistischer Interessen widerspricht der Erfahrung, nämlich jener fundamentalen sittlichen Grunderfahrung, die wir machen, wenn wir dem Anspruch begegnen, die von dem anderen ausgeht und die Levinas auf die einfache Formel bringt "Du wirst mich nicht töten".

Die Person aus eigenem Recht.

Abtreibungsspezialist Dr. Nathanson machte diese Erfahrung, als er in dem von ihm initiierten Film die Abwehrgesten eines Embryos gegen seine Tötung mit eigenen Augen sah. Dieses Kind hatte ein Überlebensinteresse! Warum der Film in der deutschen Öffentlichkeit nicht gezeigt wird, darüber muß man nicht lange mutmaßen.

Das Kriterium des Überlebensinteresses ist indessen ungeeignet, über den Personenstatus von Menschen zu entscheiden. Es ist einerseits zu eng, andererseits zu weit. Zu eng ist es, wenn es als momentaner realer Zustand, zu weit, wenn es als konstitutive Verfassung eines Lebewesens verstanden wird. Was das letztere betrifft: Ein Löwe, der eine Antilope über einen langen Zeitraum jagt, verfolgt zweifellos ein Ziel, und dieses Ziel wird nicht erreicht, wenn er zuvor erschossen wird. Die Antilope aber rennt offensichtlich um ihr Leben. Beide haben also ein Überlebensinteresse im Sinne Hoersters. Man muß schon ein hartgesottener Cartesianer sein, wenn man das Jammern eines Hundes, dem sein Herr abhanden gekommen ist, nicht als Interesse versteht, ihn wiederzusehen, Und wer die Freude des Hundes, wenn der Herr wieder erscheint, nicht als das wahrnimmt, was es ist, dem ist nicht zu helfen. Hunde Personen zu nennen ist insofern immer noch plausibler, als ihnen Interessen und damit ein implizites Überlebensinteresse abzusprechen.

Dennoch - Hunde sind nicht Personen. Sie wollen nämlich ihren Herrn nur wiederhaben. Es interessiert sie vermutlich nicht, wie es dem abwesenden Herrn geht. Nicht Interessen haben, sondern von den eigenen Interessen absehen können ist aber das, was Personen kennzeichnet. Und wenn das niemand kann, dann ist Personalität ebenjene Illusion, für die David Hume, der Vater des Empirismus, sie hielt. Denn das Subjekt von Erfahrungen kann nicht selbst eine Erfahrung gleicher Art sein. "Personale Identität ist für mich eine zu schwere Aufgabe", schreibt Hume deshalb und zählt sich nicht zu den Menschen, "die sich eines Ich zu erfreuen meinen". Menschen sind Bündel von Perzeptionen, und was wir unter "Person" verstehen, ist eine fiktive, bloß vorgestellte Verknüpfung solcher Perzeptionen. Selbsttranszendenz, Wahrnehmung des anderen als des anderen ist unmöglich. "We never advance one step beyond ourselves."

Wenn es so etwas wie Personen gar nicht gibt, erübrigt sich natürlich die Diskussion darüber, wann ein Mensch beginnt, Person zu sein. Die Kriterien hierfür werden beliebig. Für Nida- Rümelin ist es das Kriterium der Selbstachtung, für Peter Singer das reflektierte Verhältnis zur eigenen Biographie, für Hoerster sind es Interessen, die ein Überlebensinteresse implizieren, für Kersting die Fähigkeit, als gleichberechtigter Partner "Gegenseitigkeitsverhältnisse" realisieren zu können.

Jedes dieser Kriterien bedeutet zugleich einen jeweils eigenen Zeitpunkt, zu dem dieses Kriterium erfüllt ist. Das aber zeigt, daß etwas an den Voraussetzungen der ganzen Diskussion falsch ist. Der Status einer Person steht und fallt nämlich damit, daß er nicht verliehen wird, sondern daß jede Person kraft eigenen Rechts in den Kreis der Personen eintritt. Wenn Menschenrechte "verliehen", wenn sie "eingeräumt" werden, wie Hoerster schreibt, dann gibt es sie gar nicht. Denn dann ist es eine Frage der Definitionsmacht, wem diese Rechte zuerkannt werden und wem nicht. Die Gesellschaft wird zum "closed shop", der neue Mitglieder nach Belieben kooptiert oder ausschließt auf grund von Kriterien, die eine Mehrheit festlegt, an deren Bildung aber die Empfanger dieser Rechte nicht beteiligt sind. Wenn die Diskursgemeinschaft diskursiv darüber befindet, wer an dem Diskurs teilzunehmen berechtigt, wer also Subjekt von Menschenrechten ist I oder nicht, dann gibt es keine Menschenrechte.

Gerade weil der Personenstatus nichts mit Biologie zu tun hat, muß der Eintritt in die Personengemeinschaft naturwüchsig sein. Es muß ein Definitionsverbot für das geben, was ein Mensch im Sinne des Gesetzes ist. Und das heißt: Es darf weder qualitative noch temporale J Kriterien für das Personsein eines Menschen geben. "Die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst", heißt es bei Kant. Und was vernünftige Natur heißt, ist aller zeitlichen " Bestimmung enthoben. Darum schreibt wiederum Kant: "Da das Erzeugte eine Person ist und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen, so ist es eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person. . . auf die Welt gesetzt haben."

Personalität als Status kommt einer "Natur" zu, die vernünftig, und das heißt: der i Selbsttranszendenz fahig ist. Aber dabei kann es nicht auf die tatsächliche Realisierung der .J Selbsttranszendenz ankommen, sonst wären nicht nur Schlafende keine Personen, sondern auch unmoralische Menschen, also perfekte Egoisten, nicht. Es kommt aber überhaupt nicht auf tempora1 begrenzte psychische Zustände an, sondern auf Lebewesen, die ihrer Natur nach irgendwann mögliche Subjekte solcher Zustände sind.

Diese abstrakt und theoretisch klingende These entspricht tatsächlich unser aller zwanglosem Selbstverständnis, das zwar auch der Metaphysik und der Religion zugrunde liegt, keinesfalls aber von diesen abhängt. Freud sagt: "Wo Es war, soll Ich werden." Im Rückblick aber nennen wir ebendas Es "Ich". Jeder von uns sagt: "Ich wurde dann und dann geboren" und, wenn er es zufallig weiß, auch: "Ich Wurde dann und dann gezeugt", und nicht: "Damals wurde ein Zellhäufchen gezeugt, aus dem das organische Substrat meines jetzigen Ichbewußtseins wurde." Die Mutter erzählt dem Kind, wie es war, "als du in mir zu strampeln anfingst". Es gibt nicht so etwas wie "das Ich". "Ich" und "du" sind Personalpronomina, die von Personen verwendet werden, um ebenjenes leibseelische Wesen zu bezeichnen, das jeweils spricht oder zu dem gesprochen wird und dessen Anfang jeweils ins Unvordenkliche zurückreicht. Es gibt keinen Zeitpunkt, wo "etwas" zu "jemandem" wird. Wer jemand ist, war es immer. Hieran rütteln heißt den Charakter der Rechtsgemeinschaft von Personen in seinem Kernbestand verändern.

Warum sollten wir das tun? Der Grund, warum uns das zur Zeit angesonnen wird, ist offensichtlich. Wie die Umdefinition des Todes als "Hirntod" eingeführt wurde, als die technische Möglichkeit der Organtransplantation aufkam und damit das Interesse, den Spender beizeiten für tot erklären zu können, so verhält es sich auch hier: Die technische Möglichkeit, Embryonen als Ersatzteillager für therapeutische Zwecke zu nutzen, läßt das Interesse entstehen, diesen Embryonen den Personenstatus und damit den Selbstzweckcharakter abzuerkennen. Dabei wird eine gewaltige Fortschrittsund Mitleidsrhetorik aufgeboten. Gegen die Mitleidsrhetorik sollten wir ein fürallemal mißtrauisch sein, seit losef Goebbels den Mitleidsfilm "Ich klage an " drehen ließ, um das Euthanasieprogramm des Dritten Reiches populär zu machen. "

Auch Suggestivargumente sollten beiseite bleiben wie das von Wolfgang Kersting, der es als "Mißachtung menschlichen Leids" anprangert, "das Erniedrigen, Quälen und Töten, das Foltern, Vergewaltigen und Verwahrlosen von Mitmenschen dem forscherlichen Umgang mit empfindungslosen humanbiologischen Zellansammlungen gleichzusetzen". Wer tut denn so etwas? Kunstvoll ist hier unter allen Abscheulichkeiten auch das Töten eingeschmuggelt. Nur um dieses geht es doch, aber um dieses geht es wirklich. Und hier sollen wir offenbar in unserem Urteil dadurch korrumpiert werden, daß unser teilnehmendes Interesse geweckt wird an denjenigen, die vielleicht aus dem "Verbrauch" von Embryonen therapeutischen Nutzen ziehen werden. (Von denen, die mit Sicherheit finanziellen Nutzen daraus ziehen, ist weniger die Rede.) Zumindest eine "unvermeidbare Dilemma-Situation" sollen wir anerkennen, dann wird die Abwägung schon in die richtige Richtung gehen.

Aber Fragen der Gerechtigkeitkönnen nur "im Schweigen der Leidenschaften" (Diderot) entschieden werden, also von denen, deren Interessen gerade nicht auf dem Spiel stehen. In diesem Fall aber verschwindet das Dilemma. Wenn Embryonen kein Lebensrecht haben, können sie selbstverständlich für therapeutische Forschung benutzt werden. Wenn sie es haben, das heißt, wenn wir verpflichtet sind, es anzuerkennen, dann stellt sich die Frage gar nicht. Dann sind sie "Selbstzwecke", deren Existenz nicht zugunsten anderer vernichtet werden darf. Ob sie ein Lebensrecht haben oder nicht, darüber darf jedenfalls nur geurteilt werden unter gänzlichem Ausschluß des Gedankens an jene, die als Wissenschaftler, Mediziner oder Patienten von der Tötung irgendeinen Vorteil haben würden.

Der Verfasser ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität München. Grundlegend zum Thema ist sein Buch "Personen" (1996).

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.03.2001, Nr. 68/ Seite 65 & 67 ,