Literatur im Deutschunterricht: Von Funktionären verzweckt....

aus: FORUM 35 (Seite 5 - 16 )


Vom Verschwinden der Literatur

im Deutschunterricht


Eine kritische Analyse, vorgetragen auf der Jahrestagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung


Alfred Eckerle


Auf der Jahrestagung 2001 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung am 25. Oktober in Darmstadt hat Studienrat Alfred Eckerle, Deutsch-Lehrer an der Heimschule Lender in Sasbach, den heutigen Deutschunterricht kritisch analysiert. Sein mit viel Beifall aufgenommener Vortrag löste viel Nachdenklichkeit und eine lebhafte Diskussion aus. Mit Zustimmung des Referenten werden seine Ausführungen nachfolgend wiedergegeben.



"Lernen ist Vorfreude auf sich selbst", hat Peter Sloterdijk vor wenigen Wochen in einem Gespräch gesagt. Diese Formel ist in der Schule zu schön um wahr zu sein, und gerade deshalb müssen wir uns an sie halten.

Für das Kleinkind ist die Sprache eine Quelle von Freude und Lust; sie wird erobert und benutzt. Sogar die Bedeutung des Adressaten kann zugunsten der Sprache zurücktreten. Und sie hat ein menschliches Timbre, weil die Worte mit allen fünf Sinnen ausgedrückt werden. Und genau darin ist sie wahr, selbst wenn sie ins Ungefähre verhallt.
Später, in der Schule, hat der Heranwachsende ein Recht darauf, dieses Sprechen neu aufleben zu lassen. Der Geborgenheit der Mutter-Kind-Beziehung längst entwachsen, geht es jetzt darum, seine eigene Sprache zu finden und mit ihr Subjekt zu werden. Und wieder ist es ganz wesentlich die Ausdrucks- und Darstellungsfunktion der Sprache, die den Jugendlichen bei sich selbst ankommen lässt. Im Literaturunterricht ist es vorzüglich die Lektüre großer Texte der Literatur und deren ganz anderer Sprache. Es entsteht eine Bindung an die Überlieferung, die ihm gleichzeitig die Loslösung von kindlichen Mustern ermöglicht. Genau das ist der Sinn des Wortes im "Faust": "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen."

Für Deutschlehrer gibt es keine schönere Aufgabe, so scheint es, als den Schülern vermitteln zu können, was Goethe mit seinem Begriff der Anschauung meint, ihnen zu zeigen, welches Menschenbild Hölderlin hat, wie bei Stifter sich ein Grashalm im Wind bewegt, wie das unterirdische Labyrinth bei Kafka beschaffen ist, welche erwärmenden Züge die Abseitigkeit eines Robert Walser hat, was für eine Lebenskraft Anton Reiser aufbringt.

Und doch ist Schule in aller Regel ganz anders. Nicht selten habe ich bemerkt, dass meine eigene Begeisterung nur noch aufgesetzt war, um die Schüler zu infizieren. Und dann wächst ihr ein rückwärtiges Gesicht, das Erwartung heißt und dazu einlädt, unterlaufen zu werden: "Enttäuscht mich ja nicht durch Gleichgültigkeit oder Spott." Schule als Einbahnstraße, wo ständig reproduziertes Wissen verladen und transportiert wird, kann schon die Wärme für das Buch verglühen lassen, und man beginnt bald, zwischen Privat- und Schullektüre zu unterscheiden.

Wissen, Information, "Stoff" sind die Agenzien, mit denen in der Schule gehandelt wird. Bezahlt wird mit Leistungsnachweisen und Noten. Peter Bichsel sagt: "Wer Welt will, muss das Lesen verbieten. Lesen hat mit der Schule sehr wenig zu tun, die Schule ist ein sehr ungeeigneter Ort, Leute zu Lesern zu machen." Ja, ist Lesen nicht wirklich immer ein Akt des Widerstandes, etwas Subversives, Geheimes, das nur gilt, wenn es der Jugendliche selbst entdeckt und zu seinem verschwiegenen Kosmos ausbaut? Dürfen Erwachsene überhaupt Bücher vorgeben, um sie dann mit den Schülern durchzukauen?

Robert Walsers "Jakob von Gunten" beginnt mit dem Satz: "Man lernt hier sehr wenig." Gemeint ist bekanntlich das Institut Benjamenta, eine Dienerschule, die es darauf abgesehen hat, leere Rituale des Gehorsams einzuüben. Man kann das auf die heutige Schulsituation übertragen: "Man lernt hier sehr wenig." "Wenig" kann auch durch "viel" ersetzt werden: "Man lernt hier sehr viel." Oder noch genauer: "Man lernt hier sehr viel Unsinniges." "Ich habe noch nicht genügend Stoff zusammen für die nächste Arbeit", ist ein häufiges Pausenwort von Kollegen (und von einem selbst). So ist Schule.

Mittlerweile gibt es einen grotesken Methodenüberhang, dem die Inhalte subsumiert werden. "Methodentraining", "Planspiele", "Kommunikationstraining" heißen die Bücher des Pädagogen Heinz Klippert für sein "Haus des Lernens". Der Lehrer, der etwas auf sich hält, nimmt sich ganz zurück, wird zum reinen Lernorganisator, hat die Mappe voller dicker Eddingstifte, Scheren und eine Rolle bunter Papierbögen unterm Arm für das Mind Mapping. Dem Kult der Äußerlichkeit sind keine Grenzen gesetzt.


Vom Pauker zum Kopfarbeiter

In den 50er- und 60er Jahren war das Gymnasium noch eine Abrichtungsanstalt. Den Zöglingen wurden die Klassiker um die Ohren gehauen. Seit den 70er Jahren hat sich ein tiefgreifender Wandel vollzogen. Eine ganz neue Lehrergeneration trat an. Der selbstherrliche Prediger, das Original, der Pauker, der versponnene Philologe wurden abgelöst von einer methodisch und wissenschaftlich geschulten, fortschrittsgläubigen und gesellschaftskritischen Armada von Jeans-Pädagogen, die die Schüler zur Mündigkeit führen wollten und sich daran abarbeiteten. Sie kamen und kommen dabei ohne einschüchternden Lehrerhabitus aus. Sie hatten bei den Schülern das Organ gefunden, das jede Disziplinierung wie auch jede Selbststilisierung überflüssig machte: den Kopf. War es in früheren Zeiten nur die Großhirnrinde für das Memorieren und Parieren, ist es jetzt das ganze Gehirn. Plötzlich geht es um Erkenntnisse, Abstraktion, wissenschaftliche Termini und Fachsprache; didaktisch um Einstieg, Motivationsphase, Lernziel, Transfer, Leitfrage, Kernfrage, Arbeitsanweisung; methodisch um Arbeitsmaterial, Tabelle, Statistik, Grafik, Ergebnissicherung. Kein Unterricht mehr ohne Folienschreiber, Tageslichtprojektor und fotokopierte Blätter. Aus der Schule wurde eine gigantische Kognitionsmaschine. Fünfmal am Vormittag werden die Schüler zuerst gefühlsmäßig mobilisiert (affektives Lernziel), dann auf die Denkpiste geschickt (kognitives Lernziel).

Nicht selten ist der Unterricht ein wahres Inferno, durch das unablässig Strukturpfeile schießen und Wortungetüme an der Tafel fixieren, die dann als Lernziele ausgegeben werden. Damit wurde in der Schule die gerade Linie eingeführt. Vergleichbares war in der Raumplanung dieser Zeit zu beobachten. Die letzten mäandrierenden Bächlein wurden begradigt, und in die Dorfzentren versenkte man die Riesenquader der Kreissparkassen.

Im Klassenzimmer stellt seither der Lehrer die Kognitionsmaschine zwischen sich und die Schüler und verschanzt sich hinter ihr. Wenn er sie anwirft, sind die Armen vollauf damit beschäftigt, die Begriffshappen, die die Maschine fortlaufend ausspuckt, aufzuschnappen. Wird ein literarischer Text eingegeben und verhäckselt, hat das Ergebnis mit der Vorlage des Autors kaum noch etwas zu tun. Das Elaborat ist nur noch einer festgefügten Realität verpflichtet. Der Schüler sieht Begriffe und Verbindungen, die aus irgend einer höheren Vernunft zu kommen scheinen, die er sich erobern soll. So muss er zwangsläufig den Eindruck haben, der Dichter habe seinen Text künstlich verrätselt, um es den Entzifferern schwer zu machen. Ja, er fühlt sich auf die Dauer selbst an die Ordnungsraster dieser Rationalität angekettet, die seine traumhafte Vielschichtigkeit, Einmaligkeit, aber auch Ungesichertheit vergessen machen.


Literaturkastration und Schülernormierung...

Die Kognitionsmaschine ist in Wirklichkeit eine Literaturkastrations- und Schülernormierungsmaschine. Sie hinterlässt vom Schriftsteller das Bild eines lästigen Weisheitslehrers, der einem etwas vorschreibt und vorlebt, was man nicht nachleben möchte, aber abschreiben muss. Der Inhalt ist oft nur vorgeschoben, der Gehalt eliminiert. Es geht häufig nur um Information und instrumentelles Lernen, das buchstäblich um nichts kreist. Eine Aufgeregtheit, ein Sich-Vertiefen, ein Studieren: nichts dergleichen. Ich erinnere mich, wie eine sehr akkurate Kollegin, die in Französisch Ionescos "Nashörner" behandeln musste, aufgelöst ins Lehrerzimmer trat, einen Packen Folien und Kopien in der Hand, und klagte, dass die Klasse rein gar nichts verstünde. Hätte die Klasse das Stück - möglichst unvorbereitet - im Theater erlebt, würde jeder Schüler schon bei der ersten Irritation und beim ersten Lachen alles verstanden haben.

Die Kognitionsmaschine kann Sprache nur als Information verdauen. Sprechen wird zu einer Kampfhandlung, in der scharf mit Worten geschossen wird, die entweder mitgeteilt oder suggestiv dem Schüler entlockt werden. Da geht der Mund nicht ganz auf. Sofort pressen sich die Lippen wieder aufeinander. So als Sprachrohr des Vorgedachten zu fungieren, verspannt die Gesichtsmuskulatur. Wird Sprache ihrer Darstellungs- und Ausdrucksfunktion beraubt, entsteht unversehens eine Beliebigkeit des Sprechens, die in ihrer Wichtigtuerei eigentlich ein lauthalses Verstummen ist und ohne Wirkung bleibt. Die Psychoanalyse sagt, dass Befehl und Information keine seelischen Zustände zulassen. Abschalten und Desinteresse, ja Leiden sind folgerichtig.

"Er träumt zu sehr." "Sie ist nicht immer bei der Sache." "Er schaut oft zum Fenster hinaus." "Sie ist noch zu kindlich." Das sind gängige Vorhaltungen an die Eltern, wenn ein Kind sein Beisichsein und seine Sehnsucht nach Freiheit zeigt, wenn es sich weigert, ununterbrochen bei den vom Pult aus angezettelten Operationen mitzumachen. Wäre es nicht richtiger zu sagen: "Ihr Kind hat noch Seele, während die anderen schon panisch auf ein Wissenwollen fixiert sind."

Das übliche unterrichtliche Szenario läuft, trotz aller cerebralen Anstrengung, auf eine Schonung der Schüler hinaus. Sie können sich in das, was ihnen serviert wird, im Normalfall nicht mehr verwickeln. Der personale Bezug zwischen Lehrer und Schüler löst sich letztlich in einen Deal auf: Ich gebe dir etwas, was du in Prüfungen gut verwenden kannst, und du bist damit so beschäftigt, dass du mich - und dich selbst - in Ruhe lässt.


Von "Profi"-Jugendbüchern bis zum "Abi"-Stoff: Wie man Lesefreude erstickt

In der Mittelstufe werden vorzugsweise von irgendwelchen Profis verfasste sogenannte Jugendbücher gelesen. Sie handeln von Drogen, Ausländerfeindlichkeit und ähnlichen gesellschaftlichen Problemen: Letztlich aufbereitete Zeitungssprache; Kopfgeburten, die keinerlei Sprachspur legen, keinerlei Nachhall in der Seele hinterlassen.

Dagegen sind die beiden Jahre der Oberstufe ganz vom Abitur bestimmt. Das dort Geprüfte wird vorher in mikrochirurgische Schnitte zerlegt. Dadurch wird einerseits meist die Lesefreude erstickt. Andererseits bleibt kaum noch Zeit, in die Breite zu gehen. Die Abiturienten kennen am Ende fast nichts: zwei Theaterstücke, zwei Romane, ein paar Erzählungen und Gedichte. Und also kennen sie auch diese nicht wirklich, weil ihnen die literaturgeschichtlichen und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge fehlen. Zu allem Überfluss haben die Pflichtlektüren, besonders wenn es sich um Werke zeitgenössischer Autoren handelt, oft nicht das Geringste mit wirklicher Literatur zu tun.

Der Literaturunterricht ist verwissenschaftlicht, formalisiert, schmalspurig: ein geistiger Leerlauf. Wir sind bei Jakob von Gunten angekommen. Es ist an der Zeit, nach den Ursachen für diesen Irrsinn zu fragen.

In der Referendarsausbildung der 70er- und 80er Jahre wurde die Methode des taxonomischen Strukturalismus gelehrt. Strukturalismus hieß damals alles; und taxonomisch, das hatte mit messen zu tun. Es ging darum, für eine Unterrichtsstunde Grob- und Feinlernziele zu entwerfen. Dass diese Begriffe aus der Artillerie stammen - Grobziele, Feinziele - schien niemanden gestört zu haben. Die Lernziele sollten wissenschaftlich abgesichert, methodisch durchdacht, objektiv, nachvollziehbar und als messbares Wissensquant wieder abrufbar sein.

An der Universität wurden Seminare wie zum Beispiel "linguistische Poetik" abgehalten. Darin sollte die sogenannte Poetizität festgestellt werden. Nach dieser Theorie wird ein poetischer Text in Elemente gegliedert, die aus Abweichungen und Wiederholungen von der Standardsprache bestehen. Daraus seien bestimmte Regeln für poetische Texte abzuleiten, die dann auch von jedem mechanisch erlernt werden könnten. Das führte zu verführerisch genauen digitalen Beschreibungen von Texten, Sätzen und Wörtern. Plötzlich galten auch für die Literatur die naturwissenschaftlichen Prinzipien Empirie, Objektivität, Messbarkeit, Rationalität. Die Dichtung wurde einem Unterbezirk des Faktischen zugeschlagen, wohin sie gerade nicht gehört.

Gedichtinterpretationen beginnen zum Beispiel nach wie vor so: "Was hat das Gedicht denn für eine Form? Und was für einen Inhalt hat es? Fangen wir mit dem Reim an!" Und schon ist das Gedicht tot. Wer so vorgeht, für den muss der künstlerische Prozess wie folgt ablaufen: Es gibt eine Form, in die der Dichter einen Inhalt gießt. Die Form besteht aus poetischen Mitteln, mit deren Hilfe der Dichter eine bestimmte Thematik arrangiert. Ist die künstliche Trennung in Form und Inhalt erst einmal vollzogen, lässt sich an jede der beiden Kategorien eine Reihe formeller Lernziele anbinden, vorgeführt am bereits toten Objekt. Der hermeneutische Zirkel ist ad absurdum geführt.

Die Würde eines Kunstwerks

Nicht nur Tauben können

die Würde eines Kunstwerks verunzieren.....

Totalitäres Regime des Curriculums: Wie man die Würde des Kunstwerks verletzt

Im so genannten produktionsorientierten Unterricht gibt es die Übung, von einem Gedicht einige Worte wegzulassen, die dann zu ergänzen sind. Das Gedicht als Passepartout. Man muss nicht in die Schule Emil Staigers gegangen sein, um zu bemerken, dass hier die Dignität des Kunstwerks verletzt wird. Dichtung, die doch immer Weltentwurf ist, verkommt zum Spielmaterial für den treffenden Ausdruck. Das kann Wolfgang Iser mit seiner Theorie der Leerstellen jedenfalls nicht gemeint haben. Das Ganze - oder Fragmentarische - des Kunstwerks endet, und das totalitäre Regime des Curriculums beginnt.
Stellen Sie sich Lehrer vor, die sich jahrzehntelang in literaturfeindlichen curricularen Netzen verfangen haben und die dann Karriere als Studiendirektoren, Bildungsreferenten und Professoren an Studienseminaren machen. Und lassen Sie diese dann verbindliche Abiturslektüren auswählen. Für die Klassiker ist das kein Problem. In den Kultusministerien gibt es eine große Schublade mit einem Herrn Goethe-Schiller-Brecht (1749 - 1956), aus der man sich wohlfeil bedienen kann. Die Literatur ab 1970 scheint dagegen auf Gabriele Wohmann, Jurek Becker und Ingeborg Drewitz beschränkt zu sein.

In Baden-Württemberg hat es vor sieben Jahren mit Jurek Beckers Roman "Bronsteins Kinder" angefangen. Darin geht es um jüdische Identität in der DDR, um Vergangenheitsbewältigung und Adoleszenz. Es ist offenkundig, dass dieses Buch nur des Inhalts wegen ausgewählt wurde. Und so erscheint es wie eine Auftragsarbeit des Kultusministeriums: ein wichtiges Thema und Aktualität; und alles verpackt in einer leicht verständlichen Sprache. Gut gemeint, schlecht geschrieben. Eine Eintagsfliege für Zehntausende von Schülern. Dazu - wie immer - ein türkisfarbenes Büchlein Lektürehilfe, Tertiärliteratur für Niemehrleser. Und für die Lehrer ein zweihundertseitiges Konvolut mit Stundeninterpretationen nach Hausfrauenart.

Warum musste es denn "Bronsteins Kinder" sein und nicht wenigstens der ungleich bessere Roman von Jurek Becker "Jakob der Lügner"? Die Erklärung ist einfach. Nach Öffnung der Mauer war ein Sujet angesagt, in dem die DDR vorkommt (und schlecht abschneidet). Der Tenor bei den Regionaltagungen zu diesem Buch ging dahin, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Judentum in der DDR nicht stattgefunden hat (wohl aber im Westen). Der Verdacht liegt nahe, dass neben der Aktualität auch die politische Opportunität ein Kriterium der Tauglichkeit fürs Abitur zu sein scheint.

Es ist absurd, ein Buch unterzuordnen unter irgendwelche sekundäre Überlegungen. So als wäre der Literaturkanon dazu da, geschichtlich-politische Konstellationen zu bedienen. Was Literatur als Glut bereithält, kann doch nicht im Ernst in einen dünnen Fluss der Information oder einer gerade passenden Legierung abgeleitet werden, so wie aus einem Hochofen die Schlacke. Vernünftelei der Pädagogen.

Es folgte Ingeborg Drewitz' Roman "Gestern war Heute". Geliefert wird ein Abriss der deutschen Geschichte von 1923 bis 1978, gespiegelt in den Selbstverwirklichungsversuchen der Hauptfigur Gabriele M.. Ich habe keinen Schüler und keinen Kollegen ausfindig machen können, der mit diesem Buch eine Freude gehabt hätte. Stellen Sie sich vor, Sie müssten die Protokolle des Evangelischen Kirchentags der letzten 45 Jahre lesen. Eine Nachfrage bei der Auswahlkommission hat ergeben, dass die Wahl von "Gestern war Heute" hauptsächlich wegen der breiten Palette an geschichtlichen Themen und der Eignung zum fächerverbindenden Unterricht erfolgte. Aber die Schüler spüren das Gequält-Absichtsvolle des Romans. Sie empfinden das Nachgeordnete und Gefälschte, das im Kleid des Authentischen daherkommt.


Vom Versuch, Literatur zu funktionalisieren

Im Jahr 2000 verfiel man auf Hochhuts Erzählung "Eine Liebe in Deutschland" für berufliche Gymnasien. Das Buch ist komplett unlesbar. Dafür sorgt schon der Wust von Dokumenten, die in die sentimentale Beweisprosa eingeschleust sind. Bekanntlich hat der Vorabdruck eines Teils der Dokumente im Spiegel zum Rücktritt des Ministerpräsidenten Hans Filbinger geführt. Damals war ein alter Traum der politischen Linken in Erfüllung gegangen: Literatur bewirke wirklich etwas. Wenigstens punktuell könne die Kunst im Namen der Gerechtigkeit in das Räderwerk der Politik eingreifen. Nur, mit Literatur hat diese Erzählung nicht das Geringste zu tun. 25 Jahre, nachdem dieses Buch seinen Dienst getan hatte, kam es wieder auf den Tisch. Es ist gespenstisch. (Inzwischen hat die Landesregierung das Buch freilich wieder zurückgezogen.)

Anfang der 70er Jahre gab es das Wort von der gesellschaftlichen Relevanz der Literatur. In den seinerzeit beliebten Diskussionen nach einer Autorenlesung konnte man sicher sein, dass ein Student im zweiten Semester diese Keule hervorholte und den Autor mit der Gretchenfrage nach der gesellschaftlichen Relevanz des eben Vorgelesenen konfrontierte. Die Auswahlpraxis für die Pflichtaufgaben heute erscheint wie ein domestizierter Wiedergänger dieser ebenso rebellischen wie anmaßenden Geste, Literatur zu funktionalisieren. Wir haben uns die Auswahlkommission für Hochhuts Buch als eine Versammlung furchtbarer Funktionäre vorzustellen.


Hineinpacken, was nicht hineingehört

Literatur zu funktionalisieren, gleicht dem Versuch,

in ein Auto hineinzupacken, was nicht hineingehört.


Weltfremde Bildungstechnokraten

Die Auswahl solcher Bücher zeigt, wie weltfremd die Bildungstechnokraten in ihrer Fixierung auf eine diffuse Tatsächlichkeit inzwischen geworden sind. Wo wir doch nur am ganz Fremden unser Ureigenstes erfahren können, weil es das noch nicht entdeckte Eigene ist. Die Reproduktion des Belanglosen gibt den Schülern das Gefühl, selber belanglos, normiert und - im besten Falle - funktionstüchtig zu sein. Die Kunst ist in der Schule verpönt, weil die buchhalterischen Mechanismen in ihr - so scheint es - nur platte 1:1-Übersetzungen zulassen. Schüler, sei eine Gleichung, auch du sollst aufgehen! Das ist vielleicht der geheime Untergrund des gegängelten Literaturunterrichts. Die neuen Parameter heißen Information, Kommunikation, Präsentation. Wie recherchiere ich am besten (irgendetwas), wie verkaufe ich am besten (irgendetwas). Nur das zählt. Und wer das leistet, ist auf der Höhe der Zeit.
Die neuen Lehrpläne, die gerade in allen Bundesländern ausgetüftelt werden, sind auf der Höhe der Zeit. Darin heißt es, für das Fach Deutsch wohlgemerkt: "Der Lehrplan verstärkt Kompetenzen in der Beschaffung, Aufbereitung und Präsentation von Information. Möglichkeiten der Strukturierung und Visualisierung sind in diesem Zusammenhang für die Erschließung und Vermittlung eines Gegenstandes gleichermaßen von Bedeutung." Und weiter: "Methoden des Sammelns, Recherchieren in elektronischen Medien und Print-Medien, Auswertung von Tabellen, Grafiken, Bildern, Nützen von Datenbanken, Moderationsmethoden, medien- und computergestützte Präsentationsformen." Dazu nur eine Frage: Sollen in der Schule kleine Manager, Medienexperten, Schulungsleiter herangezüchtet werden, Monster der Normalität?


Was heute alles zur "Kultur" gehört: Vom Museum bis zur Baustelle

Geschuldet ist dieser Wandel wohl zuallererst dem derzeitigen Umbau der Literaturwissenschaft in eine Kulturwissenschaft. Zur Kultur gehört seit Neuestem bekanntlich alles, vom Museum bis zur Baustelle, vom Theaterabend bis zur täglichen Seifenoper, von Phänomenen wie Streit- und Unternehmenskultur bis hin zu gesellschaftlichen Ritualen und Lifestyles quer durch verschiedene Schichten und Ethnien. Zugrunde liegt ein erweiterter Textbegriff. Der Kulturwissenschaft ist es egal, ob ein literarischer Text, ein Film oder Techno als Text analysiert wird. Alle Erscheinungen der Kultur werden als Medien und Wissensspeicher angesehen, die für sich oder in Querverbindungen untersucht werden können. In der neuesten Nummer der Zeitschrift "Der Deutschunterricht" wird umstandslos festgestellt: "Das Buch ist nicht mehr als ein Leit-, sondern als ein Folgemedium anzusehen." Und: "So wäre kulturelle Kompetenz nicht mehr primär an der literarischen Bildung zu messen; stattdessen müssen die Kompetenzen TV- und PC-sozialisierter Kinder mit einbezogen werden."
Literatur zu einem bloßen Wissensspeicher ausbluten zu lassen, kommt einer Leugnung ihrer eigentlichen Möglichkeiten gleich: Leser, und besonders junge Leser, wollen sich identifizieren, mitleben, ihr Weltbild erweitern, Sprachlust empfinden. Der Wissensspeicher ist ihnen egal.


Konrad-Adenauer-Stiftung:
Inhaltslose Sprechblasenrhetorik ersetzt sprachliche Ausdrucksfähigkeit


In dieser Landschaft von Veräußerlichung und Verflachung des literarischen Anspruchs hat sich im Mai 2001 mit einer Bildungsoffensive der Konrad-Adenauer-Stiftung eine gewichtige Stimme erhoben. Beklagt wird in dem Dossier eine "rapide abnehmende sprachliche Ausdrucksfähigkeit, eine inhaltslose Sprechblasenrhetorik, der Verlust gedanklicher Klarheit, die zunehmend auf Laute und Gestik reduzierte Kommunikation." Und weiter: "Die konsequente Übernahme von Anglizismen soll offenbar Globalität, Aktualität und damit Autorität signalisieren. Doch diese Trends enthalten nicht selten eine Primitivierung, die sich auch in der Gossensprache ausdrückt. Insofern spiegelt die Sprache heute die innere Verfassung der Gesellschaft: Sie lebt aus dem Tag, sie lebt in den Tag, und sie lebt vor allem in der Selbstgewissheit derer, die nichts anderes mehr kennen."

Die Bildungsoffensive fordert eine "Renaissance des Leistungsprinzips". Sie verabschiedet auch ausdrücklich "die gescheiterte Vision der Gleichheit aller Menschen durch Bildung". Mit der Feststellung: "Es kann nicht Ziel der Schulpolitik sein, dass Bildungstechnokraten via Schule einen neuen Menschen produzieren, der den Visionen einer New Economy gerecht wird", hat die Bildungsoffensive allerdings den Nerv getroffen.

Und ich frage über sie hinaus: Muss nicht Schule zur Gesellschaft in der Tat einen Gegenort bilden, gerade damit die ihr Anvertrauten in dieser Gesellschaft als Menschen bestehen können? Und ist nicht die nachhaltige Beschäftigung mit den Gegen- und Möglichkeitswelten der Literatur eine Einladung an den jungen Menschen, sich gleichermaßen als selbstgewisses und fragiles Individuum empfinden zu können, statt vom geschenkten Selbstwertgefühl, das der Computer vermittelt, sich einlullen zu lassen?


Literaturunterricht nicht als Selektionsinstrument missbrauchen

Und doch habe ich einige Einwände gegen die Bildungsoffensive der Konrad-Adenauer-Stiftung: Die Chancengleichheit ist eine große Errungenschaft der 70er Jahre. Wer sie aufgibt, öffnet der Klassengesellschaft wieder Tür und Tor. Der Literaturunterricht darf nicht als Selektionsinstrument für eine neue Elite missbraucht werden. Die Orientierung primär an Leistung, nicht aber an Bildung, ist abzulehnen. Eine von Bildung abgekoppelte Leistung vermag den jungen Menschen nicht instand zu setzen, sich seinem Leben zu stellen. Der Rückgriff auf den Begriff der Kulturnation als Rahmen eines Kanons ist obsolet.
Ein neuer Sprachpurismus würde zu einer Lähmung der Schulkultur führen. Der Lehrer, der als Sprachreiniger auftritt, kann leicht militant werden. Zumindest entfernt er sich von der Lebenswelt der Jugendlichen und wird zum einsamen Verkünder des richtigen Worts in der Wüste der Sprachniederung. Er wäre nicht komisch wie Don Quichotte, sondern lächerlich. Es geht nicht darum, gegen Jugendsprache anzukämpfen, sondern in der Schule eine ganz andere Sprache anzubieten.

Der Literaturkanon, der dem Dossier angegliedert ist, hört bei 1970 auf. Gibt es seit 30 Jahren keine guten Bücher mehr?

Die Diagnose der Konrad-Adenauer-Stiftung ist in vielem richtig. Aber mit dem eisernen Handschuh, den sie sich anzieht, würde sie die Schule als lebendigen Ort vom Platz fegen. Mit restaurativen Anwandlungen ist dem Niedergang von Sprache und Dichtung in der Schule nicht zu begegnen.

In einem Brief an Welcker schreibt Wilhelm von Humboldt 1829: Alles wahre Erkennen und Wissen muss doch am Ende drauf hinausgehen, das zu erreichen, was der Mensch seinem Vermögen nach, das Universum zu erfassen und selbst mit umzuschaffen, wirklich ist.

Es kann also nicht darum gehen, blind Kenntnisse und Techniken anzuhäufen, wenn diese Kenntnisse keinen Rückbezug zur Selbstwahrnehmung haben. Nur durch das Erlebnis der Reflexion vermag der Mensch sich und die Welt zu begreifen und sich in ihr also zurechtzufinden und sie zu verändern. An Schiller schreibt Humboldt: "Die ganze Summe des Erkennens soll dazu dienen, dem Geiste Objecte zu seiner Uebung und der Erhöhung seiner Kräfte zu geben." In diesem Sinne ist Verstehen nicht ein passives Aufnehmen; es ist vielmehr eine produktive Tätigkeit, die weit über bloße Verstandeserkenntnis hinausgeht. Im Verstehen ergibt sich neben der Bewegung auf den Gegenstand hin eine zweite, die auf den Verstehenden zurückwirkt. Dieser erweitert im Verstehen seine Weltansicht und verändert sich damit. Humboldt sieht erst in diesem Rückbezug den bildenden Akt. Ihre höchste Gültigkeit erfährt Bildung im Begriff der Individualität, dem Unaustauschbaren schlechthin. Sie ist zuerst verborgen und entfaltet sich in der Begegnung mit der Umwelt.


Fassen wir in zwei Formeln zusammen:
Ausbilden heißt Techniken vermitteln, in Funktion setzen. Bilden heißt, zu sich selbst kommen zu lassen. Bildung ist der Urbegriff, Leistung ist ein abgeleiteter Begriff.

Leistung, losgelöst von Bildung, ist bloße Fertigkeit, Anwendungsregel, kurzes Wissen: zwar stets überprüfbar, aber erzwungen und sinnlos. Leistung dagegen, die aus der Bildung herausfließt, muss nur noch angefragt werden, dann kommt sie von selbst. Wie das Bewässerungswasser, wenn der Schieber aus dem Kanal gezogen wird. Es wäre ganz falsch, Schüler um ihre Leistungsbereitschaft zu betrügen. Die Schule darf keine andere Aufgabe haben, als die Individualität sich entfalten zu lassen. Aus diesem Grund muss viel mehr echte Leistung eingefordert werden, als es bisher der Fall ist.

Lassen wir den ganzen Methodenfirlefanz, die Medienvernarrtheit und kognitiven Spielereien, die die Schule einnehmen, einmal weg und dringen zu den Sachen selber vor. Literaturunterricht heißt hören, sprechen, lesen, schreiben.

Die Stimme - und im folgenden beziehe ich mich auf Anregungen unserer Schulpsychologin Bettina Noddings - ist der Einbruch einer anderen Ordnung, die zwischen dem Ich und dem Anderen, von dem sie kommt, einen Raum schafft, einen Zwischenraum. Am Anfang steht die innere Leere, die vom Gehörten modelliert wird. Die Stimme trägt nicht nur das Wort; sie ist auch gebietend und weisend. Sie führt zu einer je eigenen und unvorhersehbaren Resonanz im leeren Körper des Heranwachsenden. Findet diese Resonanz nicht ihrerseits Anklang, ist die Subjektwerdung - oder, mit Humboldt zu sprechen, die Entfaltung der Individualität - unterbrochen. Der Zwischenraum hat für das werdende Subjekt immer auch mit einer notwendigen Angst zu tun. Und mit ihr beginnt die Neuorientierung. Aber der Zwischenraum wird zu einem Schonraum, wenn nur noch das geronnene Substrat der Stimme (und nicht mehr die Stimme selbst) wahrgenommen wird. Immer wenn der Schüler das Gefühl hat, es handle sich um überlebenswichtigen Lern- und Prüfungsstoff, hört er nicht mehr die Stimme, sondern deren imperativen Gestus. Er kann sich dann weder an die Tradition binden, noch kann er sich eine eigene Welt erschließen und sich von den Erziehungsautoritäten lösen.

Die Stimme lässt sich aber nur einschreiben durch große Texte der Literatur. Warum soll der Lehrer nicht hin und wieder Vorleser sein, um der Stimme des Dichters Gehör zu verschaffen? Warum nicht in einer Doppelstunde "Tonio Kröger" vorlesen und in einer anderen "Romeo und Julia auf dem Dorfe"?

Hören heißt auch die eigene Stimme hören lassen. Jedes eigene Wort gibt ein Selbstgefühl und trägt zur Subjektwerdung bei. Vorlesen, rezitieren und auswendig sagen lassen sind fast vergessene Praktiken und könnten doch so glückhafte Momente von Sprachaneignung sein.

Beim Lesen geht es darum, Verbindungen zwischen dem schon Bekannten und Neuen im Text herzustellen, dem Text die eigene Stimme zu leihen, sich etwas hinzuzudenken und zwischen den Zeilen zu lesen und dem Unsichtbaren einen Raum zu geben. In der Schule ist ja die Richtung des Interpretierens ganz falsch, denn dabei muss man immer etwas aus dem Text herausholen, anstatt etwas hinzuzudenken. Die ausschließliche Ausrichtung am Wissen des Meisters, als dessen Stellvertreter der Lehrer auftritt, paralysiert die eigene Aktivität. Sie vernichtet sogar den Glauben an sich selbst.

Ich hätte zu Beginn nicht Peter Bichsel mit seinem Verdikt, dass Lesen in der Schule unmöglich sei, zitiert, wüsste ich nicht, dass er immer schon ein besessener Leser gewesen ist: "Ich habe als Zwölfjähriger den ganzen Goethe gelesen, von vorn nach hinten. Wohl nicht viel verstanden von dem, trotzdem, ich bin sehr glücklich über meinen Lesehunger als Zwölfjähriger. Denn wenn ich heute Goethe lese, dann merke ich, der sitzt ganz tief in mir drin. Ich habe ihn nicht verstanden, aber integriert."
Es gibt etwas Intensiveres als Verstehen, etwas, das aber allem Verstehen vorausgehen muss, das Erleben. Humboldt nennt es das sinnliche Auffassen, dem dann erst das geistige Anschauen folgt. In keiner Präambel der Lehrpläne ist noch von dieser geistigen Anschauung die Rede. In der Praxis ist aus dieser Art von Verstehen nur noch ein seelenloses "Abchecken" geworden.


Fruchtbare Überforderung der Schüler: Auch was man nicht versteht, kann man integrieren

Und gibt es nicht etwas, was man eine fruchtbare Überforderung der Schüler nennen könnte? Einen Keim legen. Irgend ein Ton verfängt sich, dessen Resonanz erst Jahre später spürbar wird, ganz unmerklich wahrscheinlich; und um so mehr vorhanden. Die Schüler sollten ruhig einige Briefe aus dem Hyperion kennen lernen oder ein langes Gedicht wie Brod und Wein. Die Begeisterung in der Sprache und die Widerständigkeit der Fügungen wird sie bilden, auch wenn sie nicht "verstehen". Und dazu Martin Walsers Aufsatz "Hölderlin auf dem Dachboden". Überhaupt viele Essays, die vom Erleben ausgehen und in die Reflexion münden. Und durchaus genaue Stilanalysen machen lassen, aber exemplarisch an den Gelenkstellen eines Textes und nicht das ganze Buch zehn Wochen lang zerlegen. Dafür viel lesen, ein halbes Dutzend Romane pro Schuljahr und ein Dutzend Erzählungen. Oder man kann motivisch vorgehen und sich zum Beispiel der Figur des Außenseiters in der Literatur annähern. Dabei wird schnell klar, dass fast alle Figuren in der Literatur Außenseiter sind, vom Armen Spielmann über Josef K. bis Eugen Rapp, von den linkischen Gesellen bei Markus Werner bis hin zu den Verworfenen bei Hilbig oder Goldschmidt.


Literarisches Samenkorn

Auch ein literarisches Samenkorn, das auf einen trockenen Boden des Nichtverstehens fällt,

kann zur rechten Zeit aufgehen und blühen.



Mit diesen Erfahrungen könnten die Schüler sich freimachen vom Terror des Mainstreams und die Normierungen aufbrechen, wie sie sich in den Markenklamotten und den Sprechblasen zeigen. Und sie könnten selbst ihr Anders- und Besonderssein spüren und zulassen. Denn junge Menschen lesen identifikatorisch.

Die Schrift als ein Medium des Abstrahierens von der konkreten Erfahrung ermöglicht einen Zugang zum Universellen. Das Schreiben wiederum ermöglicht, selbst Teil des Universellen zu werden - als Name, Einmaligkeit und Buchstabe. Eine Setzung des Ich. Es ist deshalb verfehlt, täglich zwei Fragen zum Text zu stellen, die schriftlich zu beantworten sind.

Ist es nicht sinnvoller, stattdessen fast wöchentlich einen Hausaufsatz zu verlangen, der eine würdige Positionierung des Schreibers zulässt? Einmal im Jahr sollte eine Facharbeit über einen Roman angefertigt werden, wobei sich jeder Schüler mit einem anderen Roman beschäftigt. Untereinander werden die jungen Leute sich über ihre Lektüren austauschen. Das wirkt überzeugender als jede Werbung von oben. Die Intimität und Dauer der häuslichen Anstrengung ohne Internet und Sekundärliteratur kann im idealen Fall einen Einschnitt in die Biografie bedeuten. Nicht gegängeltes, sondern freies und ausführliches Schreiben wirkt an der Bildung des Subjekts mit.

Ein Fazit: Die Schule liefert sich mehr und mehr den billigen Erfordernissen der modernen Kommunikationsgesellschaft aus. Damit ist die nächste Generation schlecht für ihr eigenes Dasein gerüstet.

Was heißt bergauf gehen? Peter Handke hat dafür ein Wort vorgeschlagen: Es formt. Unsere Schüler tummeln sich in der Ebene, verlassen von denen, die sie auf den Berg geleiten sollten.



Alfred Eckerle

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